2015

2015 – Die „Flüchtlingskrise“

Das bestimmende Thema 2015, die „Flüchtlingskrise“, ist die Ankunft von über einer Million Flüchtlingen in Deutschland und die Reaktion der deutschen Gesellschaft auf die flüchtenden Menschen. Es ist „das Jahr der Flüchtlinge“, und „Flüchtlinge“ das Wort des Jahres. Die deutschen und europäischen Behörden sehen sich schnell überfordert mit der Ankunft der Flüchtenden und der Organisation von Erstversorgung und langfristiger Unterbringung. Im Sommer überschlagen sich die Meldungen, sodass deutsche Medien beginnen, Tagesüberblicke und Live-Dossiers zu erstellen. Begriffe wie „Willkommenskultur“, „Anerkennungskultur“, „Parallelgesellschaften“, „Bereicherung“, „Chance“, „Abschreckungspolitik“ und „Dunkeldeutschland“ beschreiben die unterschiedlichen Reaktionen der deutschen Gesellschaft auf die ankommenden Flüchtlinge und dominieren die öffentlichen Debatten. Während im Sommer 2015 deutsche Willkommenskultur und ziviles Engagement überwiegend gefeiert werden, wendet sich die Öffentlichkeit im Herbst vermehrt den vermeintlich negativen Konsequenzen der „Flüchtlingskrise“ zu. Die öffentliche Diskussion dreht sich beispielsweise um die Frage, inwieweit sich Deutschland durch die Flüchtlinge im Land verändern wird, welche Maßnahmen umgesetzt werden sollten und wie Integration funktionieren sollte.

Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Im Laufe des Jahres kommen laut des Statistischen Bundesamtes knapp 2 Millionen Flüchtlinge und Zuwanderer nach Deutschland. Prognosen über die 2015 zu erwartenden Flüchtlinge verändern sich ständig, genau wie die stetig ansteigende Anzahl von Flüchtlingen, die Europa vor allem in den Sommermonaten erreichen. Laut UN sind in diesem Jahr so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie zuvor. So meldet beispielsweise die griechische Küstenwache für den Zeitraum von Januar bis März, dass 40.297 Menschen auf den Ägäis-Inseln angekommen sind. 2014 erfassten griechische Behörden in der gleichen Zeit 6500 Menschen. Im Juli kommen so viele Menschen nach Griechenland wie im gesamten Jahr 2014: Behörden und Hilfsorganisationen sind angesichts der 50.000 Hilfesuchenden überfordert und die Lage ist für Flüchtlinge dramatisch. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prognostiziert am 18. Februar, dass 2015 mindestens 300.000 Asylanträge gestellt werden. Die Februar-Prognose des BAMFs geht somit von einem Anstieg um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der höchsten Anzahl seit zwanzig Jahren aus. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen berichtet, dass in Deutschland bereits 2014 die meisten Asylanträge gestellt wurden. Mitte Februar häufen sich Meldungen über Städte und Kommunen, die sich über Engpässe bei der Unterkunft und Versorgung von Asylsuchenden sorgen. Gleichzeitig werden so viele Menschen wie seit 2006 nicht mehr aus Deutschland abgeschoben. Bereits im März werden die als zu niedrig eingeschätzten Flüchtlingszahlen des Bundes kritisiert: Schleswig-Holstein erwartet 200.000 mehr Asylsuchende als vom BAMF prognostiziert. Kommentiert wird im April auch die Frage, wie vielen Flüchtlingen Deutschland helfen muss und kann. Im Mai beantragen 25.992 Menschen Asyl, 108,6 Prozent mehr als im Mai zuvor aber 4,4 Prozent weniger als im letzten Monat. Im gleichen Monat erhöht das BAMF die Asylantragsprognose auf 450.000, im August rechnet die Bundesregierung dann mit 800.000 Asylsuchenden. Deutsche Behörden entscheiden in den ersten acht Monaten über 152.777 Asylanträge. Allein im September registrieren sie dann 164.000 flüchtende Menschen in Deutschland, wobei laut Frontex insgesamt weniger Menschen als im August nach Europa kommen. Eine im gleichen Monat publizierte Studie der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) geht davon aus, dass 450.000 Flüchtlinge innerhalb der EU dauerhaft Asyl bekommen könnten. Ende Oktober deutet sich an, dass die Flüchtlingsprognose der Bundesregierung von 800.000 Menschen erreicht ist. Inoffiziell wird mittlerweile von bis zu 1,5 Millionen Flüchtlingen für das gesamte Jahr ausgegangen und Bayern meldet Anfang Dezember die Registrierung des millionsten Asylsuchenden. Die in den Medien kursierenden unterschiedlichen Flüchtlingszahlen kommen auch zustande, weil nicht alle Berechnungen mit den gleichen Datensätzen arbeiten und Regierungsstellen teilweise widersprüchliche oder falsche Aussagen treffen. Zu Problemen kommt es bereits bei der Registrierung von Schutzsuchenden, da die Software zur Erstverteilung der Asylbegehrenden (EASY) zu langsam arbeitet. Während Deutschland in der Vergangenheit viel Kritik an Italien wegen der Nichtabnahme von Fingerabdrücken geübt hat, sieht sich die deutsche Polizei nun ebenfalls nicht in der Lage, sämtliche Flüchtlinge erkennungsdienstlich zu erfassen. Die schutzsuchenden Menschen kommen vorwiegend aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und den Balkanstaaten. Für heftige Diskussionen sorgt der Umstand, dass überwiegend Männer fliehen und dass fast 60.000 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern unterwegs sind. Offizielle Stellen erwarten, dass Frauen und Kinder nachkommen werden. Ende des Jahres teilen das UN-Flüchtlingswerk und die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit, dass 2015 über eine Million Menschen in die EU geflohen sind (innereuropäische Migrationsbewegungen sind nicht Teil des Datensatzes). Die Anzahl der in Deutschland Schutzsuchenden geht zum Jahresende deutlich zurück. Anfang 2016 geht die Bundesregierung davon aus, dass 1,1 Millionen Menschen 2015 in Deutschland Schutz gesucht haben.

Schutzsuchende kommen auf dem Luft-, Land- und Seeweg nach Europa; laut Frontex gibt es sieben Hauptrouten. Die meisten Menschen fliehen über das Mittelmeer: allein im ersten Halbjahr versuchen über 100.000 Flüchtlinge die EU auf dem Seeweg zu erreichen. Tödlich sind vor allem die Seerouten, auch wegen der zunehmenden Geisterschifftaktik von Schlepperbanden, eine der EU seit Jahren bekannte Gefahr. Diskutiert wird über die Verantwortung der EU für das seit Jahren anhaltende Massensterben im Mittelmeer; zum gegenwärtigen Zeitpunkt antwortet die EU mit militärischen Maßnahmen gegen Schleuser. Am 19. April sterben 800 Flüchtlinge bei einem Schiffsunglück. In den folgenden Monaten überschlagen sich die Schlagzeilen mit Rettungsaktionen und Todesnachrichten. Am 28. Juli werden zum Beispiel 13 Leichen auf einem Boot mit mehr als 520 Menschen an Bord entdeckt. Anfang August kentert ein Boot mit 600 Flüchtlingen vor der Küste Libyens, Ende August eins mit 400 Menschen. Anfang September ertrinken 58 Flüchtlinge, Ende September sterben 17 Menschen auf dem Weg nach Kos. Eine Woche zuvor wurden über 5000 Asylsuchende gerettet. Am ersten Weihnachtstag melden Zeitungen die Rettung von über 700 Flüchtlingen. Die Internationale Organisation für Migration (IMO) meldet, dass 2015 3965 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer gestorben sind. Innerhalb von zwei Monaten sind allein 70 Kinder ertrunken. An Mittelmeerstränden spülen Leichen an, das Foto des dreijährigen ertrunkenen Alan Kurdi geht um die Welt. Die UN zählt 1,015,078 Personen, die über den Seeweg 2015 nach Europa kommen. Das von Journalisten koordinierte Projekt The Migrant Files detailliert das Ausmaß der sich seit Jahren abspielenden menschlichen Tragödie im Mittelmeer.

Die zentrale Bundesbehörde für Flüchtlingsfragen ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das im ersten Quartal so viele Flüchtlinge wie schon lange nicht anerkennt. Anfang des Jahres freut sich die Bundesregierung über eine Verkürzung der Bearbeitungszeit von Asylverfahren. Die langen Bearbeitungszeiten waren auch von der Bertelsmann Stiftung kritisiert worden. Die Studie „Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland“ kommt zu dem Schluss, dass deutsche Behörden beim Bearbeiten von Asylanträgen im Vergleich zu anderen EU-Ländern am längsten brauchen. Längere Bearbeitungszeiten erschweren die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Die Dauer der Bearbeitung hängt stark vom Herkunftsland des Asylsuchenden ab. Die große Anzahl von Asylanträgen wirkt sich auch auf die Arbeitsbelastung der Verwaltungsgerichte aus, die sich zunehmend mit Asylklagen beschäftigen müssen. Im Laufe des Jahres, in dem die Kritik an Effizienz und Arbeitsstrukturen innerhalb des BAMFs nicht abreißt, wird die Behörde zum Politikum. Manfred Schmidt, seit 2010 Präsident des BAMFs, tritt im September zurück, Frank-Jürgen Weise wird sein Nachfolger. Beim Flüchtlingsgipfel im Mai werden dem BAMF 2000 neue Stellen versprochen, im September fordert die Behörde 1000 zusätzliche Mitarbeiter. Die Anzahl unbearbeiteter Anträge steigt im Oktober auf über 300.000. Sowohl Mitarbeiter als auch andere Minister üben heftig Kritik am BAMF. Weise, der allerdings auch von „gruseligen“ Arbeitsabläufen spricht, verteidigt Ende des Jahres seine Behörde. Interne Dokumente zeigen zudem, dass das BAMF zuvor Unterstützung verweigert wurde, und dass die Bundesregierung bereits im März von Frontex vor einem drastischen Anstieg der Flüchtlingszahlen gewarnt wurde. Auf die hohe Arbeitsbelastung und beschwerlichen Arbeitsabläufe wird mit verschiedenen Lösungsansätzen und Pilotprojekten reagiert: Beamte werden aus dem Ruhestand geholt, in der Agentur für Arbeit werden extra Stellen geschaffen, manche Flüchtlinge werden schneller anerkannt, allgemeine Schnellverfahren werden ausprobiert und ein Flüchtlingsausweis wird eingeführt.

Neben innerdeutschen Unstimmigkeiten kommt es vor allem innerhalb der EU zu Streitigkeiten über den Umgang mit Flüchtlingen. Hauptstreitpunkt ist die Frage, welche Länder überhaupt Flüchtlinge aufnehmen und wie viele. Die umstrittene Dublin-Verordnung regelt die Flüchtlingspolitik der EU. Bereits im März fordert die UN eine Umverteilung von Flüchtlingen in den reicheren Norden Europas. Erste konkrete Pläne von Seiten der EU werden im Mai vorgelegt: so sollen Griechenland und Italien etwa 40.000 Flüchtlinge abgenommen werden, die dann nach einem Quotensystem verteilt werden sollen. Zur Diskussion stehen auch die Einrichtung von Transitzonen und Registrierungszentren innerhalb Europas. Vor allem osteuropäischen Mitgliedsstaaten sprechen sich gegen eine Umstrukturierung der europäischen Flüchtlingspolitik aus. Im September einigt man sich auf die Verteilung von hunderttausenden Flüchtlingen. Die Schwierigkeit, die neugetroffene Abmachung in die Tat umzusetzen, zeigt sich nicht nur zwei Monate, sondern auch ein halbes Jahr später.

Hitzig diskutiert wird in Deutschland auch über die Kosten und wirtschaftlichen Folgen, die durch die „Flüchtlingskrise“ entstehen. Mitte Juni beschließt der Bund, die Soforthilfe für Flüchtlinge, die an Länder und Kommunen fließt, auf eine Milliarde Euro zu verdoppeln. Diese Ankündigung folgt auf monatelange Auseinandersetzungen über die Verteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern. Ende des Jahres erhöht Deutschland ebenfalls die Hilfen für Flüchtlinge außerhalb Deutschlands. Trotz der unerwarteten Mehrausgaben plant Finanzminister Wolfgang Schäuble den Bundeshaushalt 2016 ohne Neuverschuldung. Die Frage, welche Kosten durch die „Flüchtlingskrise“ langfristig entstehen, sorgt für heftige Diskussionen in den Medien. Studien gehen beispielsweise von 10 Milliarden, aber auch von 21 Milliarden bis 55 Milliarden Euro pro Jahr aus. So soll die Arbeitsintegration von Flüchtlingen beispielsweise bis zu 1,1 Milliarden Euro kosten. Die „Flüchtlingskrise“ wirke, nach Meinung mancher Ökonomen, wie ein „kleines Konjunkturprogramm“. Viele führende Experten halten die Kosten auch langfristig für vertretbar, denn Zuwanderung könne letztendlich zum Wachsen der deutschen Wirtschaft beitragen und Arbeitsplätze schaffen. Bedenken über Kosten und Verschuldung kommen hauptsächlich von Seiten der Kommunen, wobei aber auch so manche Bürgermeister die Herausforderung eher positiv angehen. In der Diskussion um die Kosten der „Flüchtlingskrise“ zeigt sich, dass Arbeitsgenehmigungen eine wichtige Hürde bei der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen darstellen. Für die Betroffenen selber beginnen die Schwierigkeiten bereits bei der Einrichtung eines Bankkontos.

Die Ankunft von hunderttausenden Menschen, wie auch ihre Weiterreise, führt zu chaotischen Zuständen sowohl an Europas Außen- als auch Binnengrenzen, die zu weitreichenden Veränderungen der europäischen Grenzverwaltung führen. Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen wendet Deutschland das Dublin-Verfahren für einige Monate nicht an. Am 5. September gewährt Angela Merkel den flüchtigen Menschen Zuflucht und erlaubt die uneingeschränkte Einreise. Allerdings werden 2015 mehr Grenzen in Europa geschlossen als geöffnet. Grenzen werden nicht nur wieder kontrolliert und geschlossen, sondern auch mit Zäunen befestigt; das Schengener Abkommen wird so schrittweise außer Kraft gesetzt. Bereits Mitte Juni erklärt Ungarn, dass es einen Zaun an der Grenze zu Serbien bauen wird. Aufgrund der umstrittenen Grenzschließung weichen Flüchtlinge auf andere Routen aus. Im Laufe des Jahres werden weitere Zäune errichtet und Grenzen dichtgemacht: am 13. September in Deutschland, in Slowenien, in Serbien und Mazedonien, in Italien und Österreich, und in Schweden. Vor allem auch das Aussetzen des Schengener Abkommens führt zu heftigen Debatten über das Ausmaß einer europäischen Krise.

2015 nehmen gewaltsame Übergriffe auf Flüchtlinge und Migranten kontinuierlich zu. Gemeinsam mit PRO ASYL und Mut gegen rechte Gewalt führt die Amadeu Antonio Stiftung eine detaillierte Chronik aller Vorfälle: 1246 Angriffe auf Asylsuchende und Unterkünfte werden aufgeführt, davon 179 Körperverletzungen und 136 Brandanschläge. Der Bundesverfassungsschutz spricht von 1408 fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten und 21.933 Straftaten mit rechtsextremistischen Hintergrund. Das Jahr beginnt mit „widerwärtigen Angriffen auf Flüchtlingsheime“ in Berlin und Plauen und endet mit allein fünf Übergriffen am 31. Dezember an verschiedenen Orten. Attackiert werden Busse mit Flüchtlingen, in Tröglitz brennt die geplante Asylbewerberunterkunft. In Freital kommt es zu einer Serie von fremdenfeindlichen Protesten, Rechtsextreme besetzen ein Hotel, in dem Asylbewerber untergebracht werden sollen und es gründet sich die Bürgerwehr Freital, die bald wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung ins Augenmerk der Behörden rückt. Rechtsextreme Proteste in Heidenau veranlassen Siegmar Gabriel und Angela Merkel der dortigen Flüchtlingsunterkunft einen Besuch abzustatten. Eine ausführliche Recherche der Zeit zeigt Anfang Dezember, dass rechtsextreme Gewalttäter ausgesprochen selten verurteilt werden: so gab es 222 Angriffe auf Asylunterkünfte, aber nur 4 Urteile. Im Mai wurde beispielsweise der Brandstifter von Escheburg zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Auch in deutschen Medien löst Anfang September eine ungarische Kamerafrau Empörung aus, weil sie einem flüchtenden Vater und seinem Kind ein Bein stellte und beide so zu Fall brachte. Zur Debatte steht vor allem auch, wie Gewalt gegen Flüchtlinge und Minderheiten vom Internet auf die Straße überschlägt. Neben rechtsextremer Gewalt erleiden Geflüchtete, vor allem Frauen, Kinder und LGBT-Flüchtlinge, sexuelle Gewalt. Zudem kommt es in mehreren Flüchtlingsheimen zu Massenschlägereien.

Obwohl Gewalttaten gegen Flüchtlinge 2015 drastisch zunehmen, dreht sich die öffentliche Debatte vor allem um die Frage, wie kriminell die Geflüchteten seien und ob islamistische Terroristen nach Europa gelangen könnten. Erste Studien zeigen, dass Flüchtlinge nicht krimineller sind als Deutsche. Die Bundesregierung erklärt im März und August, dass sie keinerlei Hinweise von Terroristen unter den Flüchtlingen habe. Im November wird von etwa zehn Verdächtigen gesprochen, was deutsche Behörden als Anzeichen werten, dass die Angst vor Terroristen unter den Flüchtlingen nicht der Realität entspreche. Der Umstand, dass zwei der Attentäter von Paris als Flüchtlinge eingereist sind, heizt die Debatte weiter an. Weiteren Zündstoff bietet die Nachricht, dass der Islamische Staat mehrere Blanko-Pässe erbeutet hat. Auch der Schwarzmarkt mit syrischen Pässen floriert: Syrer erhalten einfacher Asyl, weshalb gerade Syrer, die aufgrund der Kriegssituation nicht in der Lage sind, Pässe auf legalem Weg zu erhalten, diese Option nutzen.

Heftiger Streit herrscht über Asylsuchende aus dem Kosovo und anderen Balkanländer. Deutschland reagiert auf die fliehenden Menschen mit Grenzkontrollen, Abschreckung durch „Rückführungsvideos“, auch per Facebook, Wiedereinreiseverboten und Gesetzesänderungen. Bereits im ersten Quartal sinkt so die Anzahl von Balkanflüchtlingen. Ab November gelten Albanien, Montenegro und der Kosovo als sichere Herkunftsländer.

Nicht nur im Fall der Balkanflüchtlinge reagiert Deutschland auf Flüchtlinge mit Gesetzesänderungen und anderen Maßnahmen, die Asylsuchende abschrecken sollen. Werbekampagnen, die von einer Flucht nach Deutschland warnen, werden geschaltet, Asylanträge aus sicheren Herkunftsländern sollen im Eilverfahren bearbeitet werden, Beschränkungen des Familiennachzuges werden debattiert und das Asylgesetz wird im Oktober verschärft. Deutschlands Vorgehen zieht heftige Kritik auf sich. Die Beschleunigung der Asylverfahren soll auch Abschiebungen vorantreiben. Im September wurden bereits so viele Menschen abgeschoben wie im gesamten Vorjahr. Dabei werden nicht alle Abschiebungen durchgeführt. Streitpunkt sind auch Abschiebungen in andere EU-Länder, beispielsweise Rumänien und Bulgarien. In der Kritik stehen auch die Kirchen, die immer öfters Kirchenasyl gewähren. Asylsuchende, deren Anträge geringe Aussicht auf Erfolg haben, werden auch durch die Auszahlung einer Prämie zur Rückkehr in ihre Heimatländer angeregt. Im Laufe des Jahres werden die Stimmen lauter, die gesetzliche Regelungen für eine gelungene Integration der Flüchtlinge für unerlässlich halten. So fordert die CSU eine „Integrationspflicht“ für Flüchtlinge, die – solange sie gute Aussichten auf Anerkennung von Asyl haben – verpflichtend Deutschkurse besuchen und ein Bekenntnis zu deutschen Grundwerten ablegen sollen. Leitkulturdenken hat Hochkonjunktur in Deutschland. Obwohl gerade Bayern die „Flüchtlingskrise“ vorbildlich managt, finden Rufe nach Leitkultur und Integrationspflicht vor allem Unterstützung bei der CSU. So fordert die CSU lautstark eine Obergrenze für Flüchtlinge, Horst Seehofer bringt auch die Möglichkeit einer Verfassungsklage ins Spiel. Der Zentralrat der Juden unterstützt die Forderung der CSU nach einer Begrenzung der Flüchtlinge. Während Organisationen wie PRO ASYL derartige Gesetzesänderungen und Obergrenzen stark kritisieren, findet die Kritik der CSU Anklang bei Präsident Joachim Gauck, beim Zentralrat der Muslime und bei Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier. Während Seehofer sich mit seiner Forderung nach einer Obergrenze nicht durchsetzen kann, einigen sich die Parteien beim Koalitionsgipfel im November auf eine neue Flüchtlingspolitik. Am 1. November tritt auch ein neues Asylrecht in Kraft. Monate zuvor waren bereits die gesetzlichen Richtlinien für die Verteilung von minderjährigen Flüchtlingen gelockert worden und beispielsweise Maßnahmen wie die Umstellung von Bargeld- auf Sachleistungen verabschiedet worden. Die Diskussionen über die „Flüchtlingskrise“, Klassifizierung der Migranten, Leitkultur und Integration haben zur Folge, dass Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz laut werden.

Um die Migration von Flüchtlingen in die EU zu stoppen, verabschiedet die EU Ende November ein umstrittenes Abkommen mit der Türkei. Für die Bereitschaft der Türkei, Flüchtlinge an der Weiterreise in die EU zu hindern, gibt es von Seiten der EU Geld und Zugeständnisse bei Visaregelungen und EU-Beitrittsgesprächen. Für einige EU-Länder sind Flüchtlingskontingente Teil der Verhandlungen. Die Debatte über die Wirksamkeit und Ethik des Abkommens hält an. Die Taktik der EU, Flüchtlinge auf andere Länder abzuschieben, ist eine altbekannte Strategie der EU. Auch für die Balkanroute, die von der Mehrheit der Flüchtlinge genommen wird, wird eine Strategie zur Bekämpfung der „Flüchtlingskrise“ entwickelt. Doch am Jahresende kommen weiterhin Tausende Flüchtlinge über den Balkan.

Über das Jahr entstehen in Europa verschiedene Sammel- und Flüchtlingslager, die sich durch katastrophale, menschenunwürdige Zustände auszeichnen. In Calais hausen Tausende von Flüchtlingen. Viele versuchen über den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen. Am Budapester Bahnhof herrschen chaotische Verhältnisse. Die ungarischen Behörden sind überfordert. Zu katastrophischen Zuständen kommt es Ende des Jahres auch an der griechisch-mazedonischen Grenze in Idomeni. Flüchtlinge, die am Weiterziehen gehindert werden, versuchen, den Grenzzaun niederzureißen. Falschmeldungen und Gerüchte verschlimmern die Situation. Auch in Deutschland bereitet die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge Probleme: Behörden sind schlicht überfordert, das Lageso in Berlin wird zum Synonym für die Unfähigkeit Deutschlands angemessen auf die ankommenden Flüchtlinge zu reagieren, die medizinische Versorgung ist katastrophal und Unterkünfte sind von Ungeziefer befallen und nicht winterfest. Unzureichende Unterkünfte sind gerade auch ein Problem für kranke und behinderte Flüchtlinge, wobei allgemein die Optionen zur Unterbringung von Flüchtlingen heftig diskutiert werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird zur Schlüsselfigur in der „Flüchtlingskrise“. Merkels am 31. August zum ersten Mal geäußertes „Wir schaffen das!“ zum politischen Mantra. So wiederholt sie diesen Schlüsselsatz am 5. September, an dem sie sich gegen eine Abweisung der Flüchtlinge ausspricht und die Grenzen öffnen lässt. Im Oktober verlegt Merkel die Verwaltung der „Flüchtlingskrise“ vom viel kritisierten Innenministerium direkt ins Kanzleramt – in den Verantwortungsbereich ihres Vertrauten und Chef des Bundeskanzleramtes Peter Altmaier. Merkel erhält für ihre Politik in der „Flüchtlingskrise“ zwar auch Lob, doch KritikSkeptizismus und Ablehnung, vor allem im restlichen Europa, überwiegen. Im Dezember erläutert Merkel ihre Sicht auf die Ereignisse des Jahres 2015 in einer mit Spannung erwarteten CDU-Parteitagsrede. In ihrer Rede beschwört die Bundeskanzlerin erneut ihr Leitmotiv des „Wir schaffen das!“ und fordert Flüchtlinge zur Integration und Anerkennung deutscher Werte auf. „Multikulti führt in Parallelgesellschaften und Multikulti bleibt damit eine Lebenslüge,“ erklärt Merkel. „Das Gegenteil davon ist Integration, die die Offenheit der Menschen in unserer Gesellschaft erfordert. Dazu gehört aber genauso die Bereitschaft derjenigen, die zu uns kommen, sich an unsere Werte und Traditionen zu halten“. Merkels Flüchtlingspolitik wird vor allem für den Aufstieg der Partei Alternative für Deutschland (AfD) verantwortlich gemacht.

Auf die „Flüchtlingskrise“ reagieren auch Künstler, Autoren und Regisseure. Das Projekt „We Refugees“, das von Flüchtlingen auf ihrer Flucht gemachte Photos kuratiert, wird in Berlin und Hamburg ausgestellt. Mitte Juni sorgt die Aktion „Die Toten kommen“ des Zentrums für politische Schönheit für erregte Diskussionen um die europäische Flüchtlingspolitik und Deutschlands Verantwortung für das Sterben von tausenden Flüchtlingen. Jenny Erpenbecks Roman über afrikanische Flüchtling in Berlin, „Gehen ging gegangen“, erscheint im August. Merle Krögers „Havarie“ spielt im Mittelmeer: ein Kreuzfahrtschiff trifft auf ein Flüchtlingsboot. Vor allem auf deutschen Bühnen findet die „Flüchtlingskrise“ Widerhall. Besonders häufig wird Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ aufgeführt; die österreichische Literaturnobelpreisträgerin erweitert das Stück. Das deutsche Fernsehen bietet Sendungen speziell für Flüchtlinge an, wie „Marhaba“, und führt arabische Untertitel ein. Auch die „Tatort“-Serie nimmt sich dem Thema an: „Verbrannt“ wird im Kino gezeigt. Mitte November veranstaltet die Akademie des Jüdischen Museums Berlin die internationale Konferenz „Postmigrantische Gesellschaft?! Kontroversen zu Rassismus, Minderheiten und Pluralisierung“.

Um Flüchtlinge schnelleren Zugang zu Universitäten zu ermöglichen, stellt der Bund mehr Geld für Universitäten wie auch Bafög für Studenten zur Verfügung. Einige deutsche Hochschulen werden auch eigenständig aktiv. Zudem werden mehr als 8200 Deutschschulklassen an Schulen eingerichtet. Regierungsstellen gehen zudem davon aus, dass 68.000 Kindergartenplätze gebraucht werden. Durchgesetzt wird auch, dass Flüchtlinge ohne Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ein Praktikum absolvieren können. Als Eingewöhnungs- und Integrationshilfen stehen Flüchtlingen vor allem auch verschieden Apps zur Verfügung. Beispielsweise ist die Ankommen-App in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem Goethe Institut sowie dem Bayerischen Rundfunk entstanden. Diese Regierungsstellen und Organisation unterstützen auch weitere Projekte, wie die Integreat-App oder eine Sprachlern-App des Goethe-Instituts, die von der Stiftung Warentest für empfehlenswert befunden wird. Ende Oktober findet in Berlin auch ein Refugee-Hackathon statt.

Hauptthema bleibt ganzjährig, das Engagement der Zivilgesellschaft. Eine Studie der EKG, die Ende Dezember veröffentlicht wird, zeigt, dass das Engagement bei Flüchtlingen etwas höher ausfällt als im sonst am meisten unterstützten Bereich, dem Sport. Weitere Studien, auch in Österreich, bestätigen eine große Bereitschaft, der Bevölkerung zu helfen, auch langfristig. Insgesamt wird 2015 mehr als je zuvor gespendet. Hilfe kommt dabei auch aus dem Bereich des Fußballs, wobei hier auch die Art und Weise des Spendens zur Debatte stehen. Diskutiert wird auch die Reaktion von muslimischen Verbänden, die Flüchtlingen zur Seite stehen.