Kulturelle und Politische Partizipation? Ein Interview with Mutlu Ergün-Hamaz

In addition to English-language translations and original posts, the MGP blog also provides a space for creative and critical work in German that may be of interest to our readers. In this post, MGP contributor Daniel Schreiner talks to German-Turkish scholar, author, performer, and activist Mutlu Ergün-Hamaz on representing marginalization and hybridity and what it means to be “of Color” in Germany . 

Mutlu Ergün-Hamaz

Ähnlich wie Zafer Şenocak, Ferdiun Zaimoglu oder Serdar Somuncu engagiert sich der Berliner Soziologe, Kabarettist, Schriftsteller und Anti-Rassismus-Trainer Mutlu Ergün-Hamaz mit unterschiedlichen Kunstformen und in seinen wissenschaftlichen Arbeiten[1] gegen Rassismus in der BRD. So ist der an der in der Soziologischen Abteilung der London School of Economics promovierende Autor von „Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des Sesperado” beispielsweise als White-Awareness- und Empowerment-Trainer[2] beim Verein Phoenix und als Redakteur bei dem von Deniz Utlu gegründeten Magazin freitext tätig.[3] Gemeinsam mit Noah Sow[4] kreierte Ergün das Satireprogramm „Edutainment-Attacke“, mit dem die beiden in den Jahren 2008 bis 2012 in der Öffentlichkeit auftraten. Seit 2010 betätigt sich Ergün zudem als Mitherausgeber für die Edition „insurrection notes“ im Unrast Verlag, in der Autor_innen of Color ihre Prosatexte veröffentlichen können und unterhält als @sesperado einen Twitter Account zu politischen Themen.

2010 erschien – ebenfalls im Unrast Verlag – Mutlu Ergün-Hamaz´ Debüt-Roman „Kara Günlük[5] – Die geheimen Tagebücher des Sesperado“, in dem sich der namenlos bleibende Ich-Erzähler in einer selbstironischen Weise an die fiktiven Leser seiner Aufzeichnungen wendet, um von seinem persönlichen Einsatz gegen die rassistischen Strukturen der weißen Dominanzgesellschaft in Berlin zu berichten.

Bei dem titelgebenden Begriff „Sesperado“ handelt es sich um einen Neologismus. Das türkische Wort „Ses“/Lärm verändert im Folgenden die Semantik des Wortes Desperado: Der Ich-Erzähler handelt nicht als ein schweigsamer prototypischer „loup solitaire“, sondern schlägt Lärm und weist auf die sozialen Missstände in seiner Lebenswelt hin. Gemeinsam mit seinen Freunden führt er zahlreiche gewaltfreie kulturell ausgerichtete Guerilla- Aktionen durch, die die hegemonialen Mythen und den Dominanz-Anspruch einer auf Kategorien von Blut und Boden beruhenden deutschen Leitkultur auf humorvolle Art und Weise in Frage stellen.

Besondere Originalität erhält der Roman dadurch, dass Ergün-Hamaz den Erzähltext mit Fußnoten versieht, in denen der studentische türkisch-deutsche Ich-Erzähler ergänzende – teils biographische und teils wissenschaftliche – Kommentare einfließen lässt, die intertextuell mit Ergün-Hamaz´ soziologischen Texten und seinen kulturkritischen und partizipatorischen Ansätzen verwoben sind.[6]


DS: Hast du literarische Vorbilder, die dein Arbeiten beeinflussen? Welche sind es?

ME: Literarische Vorbilder habe ich viele. Dies sind Autor_innen wie Octavia Butler, Franz Kafka, May Ayim, Yaşar Kemal, Chimamanda Ngozi Adichie, Chinua Achebe, James Baldwin, Haruki Murakami, Maya Angelou, Toni Morrison, um nur einige wenige zu nennen. Auch die Comics von Aaron McGruder haben einen starken Einfluss auf mein Schreiben und als Kind und Teenager habe ich ganz viel die Satiren von Ephraim Kishon (damals hatte ich natürlich keine Ahnung von seinen politics) gelesen. Ich lese total gerne Science-Fiction oder Speculative Fiction von Autor_innen of Color.

DS: Du beschäftigst dich nicht nur als Autor und Performer mit Ausgrenzungsstrategien, Rassismus und Partizipation, sondern auch wissenschaftlich als Pädagoge und Soziologe mit diesen Themen und hast einige Zeit in England zugebracht, das wie die BRD oder die USA ebenfalls ein Einwanderungsland ist. Inwiefern ähnelt die Situation in UK den Bedingungen in Deutschland. Muss der „Sesperado“ in England ähnliche Kämpfe austragen wie in der BRD?

ME: Ich bin gerade etwas unsicher, ob sich die Frage an mich oder meine Romanfigur, den „Sesperado“ richtet. Auch wenn viele das glauben, sind der „Sesperado“ und ich nicht ein und dieselbe Person. Es stecken viele semi-biographische Elemente im „Sesperado“, aber ob er ähnliche Kämpfe in England auszutragen hat, kann ich nicht sagen, weil ich diesen Teil des Buches nicht geschrieben habe und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht schreiben werde. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich natürlich sagen, dass ich in England, ähnlich wie auch in Deutschland Rassismuserfahrungen gemacht habe. Ich sage „ähnlich“, weil der Rassismus in England eine leicht andere Qualität hat, er ist dort wesentlich subtiler. Ich sage immer gerne, der Rassismus in England wurde mir immer mit einer Tasse Tee und einem Tröpfchen Milch serviert. Natürlich schaffen multikulturelle Politiken unterschiedliche Realitäten in England als in Deutschland, welches mehr mit dem Konzept der Assimilation arbeitet. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in England der Diskurs zum Thema Rassismus uns in Deutschland hier um circa ein Jahrzehnt voraus ist. Spannend aber finde ich viel mehr, sich die Strukturen anzuschauen: Schaffen diese Diskurse auch andere Strukturen? Und da stelle ich oft fest, dass der strukturelle Rassismus (also Diskriminierung im Bildungssystem, Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt etc.) in England ähnlich stark ist, wie er das in Deutschland ist. Für mich persönlich spielt es keine Rolle, ob ich am Bahnhof Zoo oder London Liverpool Street angehalten werde, um mich auszuweisen, racial profiling bleibt racial profiling.

DS: In den USA ist die Diskussion über „Class & Race“ meines Erachtens nach um einiges klarer und heftiger als in Deutschland und es gibt eine lange Tradition von Bürgerrechtsbewegungen wie dem Chicano-Movimiento, dem Black Civil Rights Movement oder der aktuellen Black Lives Matter-Bewegung. Gibt es ähnliche Bewegungen in Deutschland z.B. auch bei Türk-Deutschen und wenn nicht, warum nicht? Ist der „Sesperado“ alleine?

ME: Die türkisch/kurdisch/anatolische Community ist noch weit von einer Art Bürgerrechtsbewegung, wie sie in den Staaten existiert hat, entfernt. Ich glaube, dass einige von uns vielleicht noch einige Jahrzehnte brauchen werden, um emotional in diesem Land anzukommen. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht genau, was los ist, vielleicht geht es uns einfach zu gut, vor allem wenn wir dies mit dem Leben in der Türkei vergleichen. Ich glaube, das Sozialsystem in Deutschland, auch wenn es immer weiter runtergeschraubt wird, buffert viel von dem sozialen Sprengstoff ab. Vielleicht haben sich die türkischen/kurdischen/anatolischen Deutschen auch zu sehr der Protestkultur in Deutschland angepasst, die meines Erachtens nicht sehr ausgeprägt ist. Wenn ich das mal etwas sarkastisch ausdrücken darf, so war die einzige wirklich „erfolgreiche“ Revolution in Deutschland die nationalsozialistische. Bei der Gezi-Park-Bewegung haben wir gesehen, wie in der Türkei Protest auch aussehen kann. Ich befürchte leider auch, dass viel dieser negativen Energie, welche durch Marginalisierung und Unterdrückung entstehen, von Salafisten und Co. eingefangen und auf einer Art und Weise kanalisiert werden, welche mir überhaupt nicht passt. Aber abgesehen davon, glaube ich, dass mehr auf der Straße passiert als wir wissen und erfahren sollen. Ich glaube, das ist das viel größere Problem. Die Communities könnten sich zwar noch viel stärker miteinander vernetzen und da gibt es schon einige gute Leute, die sich für Koalitionsarbeit und Intersektionalität einsetzen. Wer weiß, was da noch für kreative Formen des Protestes es bereits gibt und welche noch entstehen werden. Daher glaube ich nicht, dass der „Sesperado“ alleine ist.

DS: In meiner Dissertation zur türkisch-deutschen und zur mexikanisch-amerikanischen Literatur komme ich nicht darum umher, Autor_innen mit einordnenden Begriffen bezüglich ihrer Herkunft zu belegen. Dies möchte ich eigentlich nicht, da das ein diskursiver Vorgang ist und zu unsäglichen Begriffen wie dem „Migrationshintergrund“ führt und den Autoren und Menschen nicht gerecht wird. Für den amerikanischen Bereich ist dies um einiges einfacher, da es hier eine selbstbewusste Tradition mit der Eigenbezeichnung gibt, die sich Fremdzuordnungen widersetzt hat. Was schlägst du vor?

ME: Ich schlage vor: Abwarten und Tee trinken! Vor zwanzig Jahren waren wir noch Ausländer, dann Migrant_innen, danach Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationsgeschichte. Manche arbeiten mit den nationalen oder geographischen Konstrukten, türkische/kurdische/anatolische Deutsche, Afrodeutsche etc. In bestimmten politischen Räumen kursieren auch Begriffe wie People of Color. Ich weiß, es kann manchmal frustrierend oder verwirrend sein, aber ich finde es sinnvoll zu schauen, mit welchen Eigenbezeichnungen arbeiten die Leute und sich zunächst diesen anzunehmen. Ich persönlich finde den Begriff „People of Color“ zurzeit am passendsten. Ich weiß, der Begriff kommt aus dem Amerikanischen und hat seine Grenzen, aber als Kampfbegriff finde ich ihn toll, weil er dieses Teile-und-Herrsche-Prinzip der weißen Vorherrschaft untergräbt, in dem es all das zusammenfasst, was nicht weiß ist. Mir geht es viel weniger um Identitätspolitik, sondern viel mehr um Begriffe, mit denen ich Machtstrukturen benennen und verändern kann.

Ich hatte mal eine weiße Deutsch-Amerikanerin bei mir im Training und sie meinte, die Leute lachen sie aus, wenn sie sagt, dass sie Migrationshintergrund hat. Der dominante Diskurs fasst unter diesem Begriff oft einfach nur nicht-Weiße zusammen, egal wie lange diese Menschen schon in Deutschland leben oder nicht. Aber PoC ist eben auch eine Selbstbezeichnung, ich würde niemanden dazu zwingen sich so zu nennen, das müssen die Leute für sich selbst entscheiden.

DS: Begriffe und Ideen wie People of Color, Critical Whiteness scheinen in der BRD nicht weit verbreitet zu sein und auf das studentische Milieu in Frankfurt oder Berlin begrenzt zu sein. Statt radikaler Reaktion im Sinne des „Sesperado“ scheint man sich eher innerhalb bestehender politischer Systeme seine partizipatorische Nische zu suchen oder organisiert sich religiös. Ist das so, oder kenne ich mich einfach nicht genug aus?

ME: Ich weiß nicht genau, wonach du suchst, aber insbesondere in der Kunst und in der Kultur passieren wahnsinnig spannende Dinge mit diesen Begriffen und Konzepten. Auch gibt es viele zivilgesellschaftliche Vereine und Organisationen, die eine ganz andere Sprache sprechen, als dies der dominante Mainstream tut. Sicherlich ist der Diskurs an den Universitäten manchmal etwas dichter, aber da würde ich es auch nicht nur auf Berlin und Frankfurt reduzieren. Durch meine Arbeit reise ich sehr viel und lerne die verschiedensten Leute kennen. Ich spreche mit immer mehr Leuten diese Sprache. Klar könnten es noch viel mehr sein, aber daran müssen wir eben arbeiten. Ja, noch sind die Religiösen und die „partizipatorischen Nischen“ in der Mehrzahl, aber irgendwann werden sich viele Leute auch von denen enttäuscht abwenden und nach Alternativen suchen. Einige gibt es ja bereits, wie zum Beispiel Phoenix e.V., einer der größten antirassistischen NGOs in Deutschland, der seit über 20 Jahren aktiv ist und bereits mehr als 400 Mitglieder hat. Und noch vieles mehr.

DS: Wie siehst du die Entwicklung der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland in Anbetracht von Islamophobie und Manifestationen wie Pegida? Erleben wir gerade eine Medienhysterie, in der die Fragmentierung der Gesellschaft nur zutage tritt, weil eben nur “bad Muslims and bad racists good news” sind oder erleben wir gerade eine Self-Fullfilling-Prophecy des Kampfes der Kulturen? Wie kann man das Ausgrenzen und „Othering“ zivilgesellschaftlich und politisch stoppen?

ME: Ähnlich wie Edward Said glaube ich nicht an einen Kampf der Kulturen, sondern viel mehr an einen Kampf um kulturelle Definitionen. Weiße haben immer noch sehr viel Definitionsmacht und empowern in den Talkshows und Nachrichten, jene Muslime, wie die Salafisten und die IS, die sich nahtlos in ein dualistisches Freund/Feind-Schema einfügen lassen indem sie ihnen viel mehr Aufmerksamkeit schenken und jene Stimmen, die eine, ich nenne es mal, humanistische Lesart des Islam praktizieren, viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken – vielleicht weil diese auch anti-islamischen Rassismus zu stark thematisieren. Pegida ist ein Symptom eines verrohenden, menschenfeindlichen Bürgertums, insofern also einer gesellschaftlichen Zerfallserscheinung. Ich glaube, Deutschland muss sich als multirassischer, pluralistischer Staat neu erfinden. Das funktioniert in erster Linie über Selbstrepräsentation von People of Color, politisch und medial. Wir brauchen einen Diskurs in Deutschland, der sich mit der Frage beschäftigt, was ist Menschlichkeit und wie können wir sie allen Menschen in dieser Gesellschaft gewähren. Dabei gilt es nicht wieder denen zuzuhören, welche sowieso die Definitionsmacht haben, sondern jenen, denen Menschlichkeit permanent in unserer Gesellschaft verweigert wird.

DS: Dem „Sesperado“ scheint Religiosität nur in Bezug auf kulturelle Anerkennung wichtig zu sein. Wie würdest du diesen Aspekt für dich definieren?

ME: Ich denke, dass das eine sehr persönliche Frage ist und dass ich das denke, sagt dir sehr viel über meine Religiosität aus, falls das deine Frage ist. Ich denke, dass jeder für sich persönlich auf seine, ihre spirituelle Suche gehen muss. Spiritualität fasse ich hier sehr weit, selbst Atheist_innen können nach irgendeiner Form der kosmischen Sinnhaftigkeit suchen. Religiosität ist mir in Bezug auf kulturelle Anerkennung wichtig, aber ich bin kein Kulturrelativist. Da wo Religion oder Kultur entmenschlicht, da ziehe ich eine Grenze, dass muss ich nicht anerkennen.

DS: Der mexikanisch-amerikanische Autor Richard Rodriguez wurde durch seine Autobiographie „Hunger of Memory” und seiner darin geäußerten Kritik an Programmen zur Bilingualität und Affirmative Action bekannt und zu einem Liebling der Konservativen, während die Vorkämpfer der Chicano-Bewegung[7] in ihm einen „right-wing sell-out“ sahen. Er sagt, dass er erst durch das Heimischwerden im Englischen auch das Gefühl bekam Rechte in der Öffentlichkeit zu haben. Wie stehst du zu Fragen der Bilingualität und zum Konzept der Affirmative Action im öffentlichen Raum? 

ME: Ich finde Mehrsprachigkeit eine tolle Sache, ich bin selbst mit Deutsch und Türkisch aufgewachsen und es ist ein Geschenk für mich beide Sprachen sprechen zu können. Kinder sind total in der Lage mehrsprachig aufzuwachsen, mein Kind spricht bereits mit zwei Jahren drei Sprachen, warum sollten wir das unseren Kindern vorenthalten? Warum sollte es im öffentlichen Raum keine Möglichkeiten geben, die Vielfalt unserer Gesellschaft widerzuspiegeln? Ich persönlich bin ein großer Fan von Quoten und Affirmative Action. Ich hoffe die Frauenquote wird bald für die gesamte Bundesrepublik Geltung haben und nicht nur für Unternehmen, die an der Börse sind. Und warum soll es dann nicht auch eine Quote für PoC geben? Wichtig ist aber auch, dass die Leute nachfühlen müssen können, warum es sie gibt, sonst sehen wir einen „Weißen Backlash“ wie wir dies derzeit in den USA erleben. Es muss über das kognitive Verstehen hinausgehen, das Nachfühlen ist extrem wichtig. Der britische Sozialpsychologe Farhad Dalal sagt, wenn eine Gesellschaft nach „Rasse“ strukturiert ist, dann ist auch unsere Psyche nach „Rasse“ strukturiert und eine nach „Rasse“ strukturierte Psyche reproduziert eine nach „Rasse“ strukturierte Gesellschaft. Ich kann die Strukturen verändern, aber ich muss auch die Psyche der Menschen, die in diesen Strukturen leben und handeln mitnehmen.

DS: Kennst du Murad Durmaz Buch „Panoptikum. Deutschland den Türken: Oder: Wie kann man diese Türken nur assimilieren?” Hat es eine Rolle bei der Entstehung des „Sesperado“gespielt?

ME: Nein, ich kenne das Buch nicht und daher hat es auch in der Entstehung des „Sesperado“ keine Rolle gespielt. Was eine zentrale Rolle in der Entstehung des „Sesperado“ gespielt hat, waren die „tausend worte tief“ Lesungen, welche ich zwischen 2003 und 2006 in Berlin-Kreuzberg, im Cafe :vorWien zusammen mit Deniz Utlu gemacht habe. Da habe ich einmal im Monat ein Kapitel des „Sesperado“ vorgelesen und an einem überwiegend POC-Publikum auch austesten können, was witzig ist und was nicht. Das war eine fantastische Gelegenheit und ohne diese Lesungen und das Publikum hätte es auch keinen „Sesperado“ gegeben.

DS: Wen erreichst du mit deiner Prosa? Der „Sesperado“ ist wirklich ein besonderes Buch, wie wird es wahrgenommen und hast du den Ehrgeiz weiter als Schriftsteller Fuß zu fassen? Welchen Erwartungen begegnest du bei den Verlagen? Kommt es vor, dass Verlage dich typologisieren wollen und von dir Migrationsliteratur erwarten?

ME: Bevor ich das Buch beim Unrast Verlag veröffentlicht habe, habe ich mit einer recht großen Literaturagentur geflirtet. Wer weiß, bei welchem Verlag das Buch hätte erscheinen können. Aber es hat nicht geklappt, da hat etwas ganz klar mit der Kommunikation nicht gestimmt und wer weiß, auf welche Art und Weise sie den Roman hätten verbiegen wollen. Beim Unrast Verlag hatte ich das Privileg den Roman auf eine Art und Weise zu veröffentlichen, wo ich keine inhaltlichen oder politischen Kompromisse eingehen musste. Ich glaube, vielleicht wäre mein Buch auch einfach in einem anderen Verlag untergegangen? Der Unrast Verlag erreicht ein akademisches, linkes, antifaschistisches und auch immer mehr „People of Color“- Publikum. Eine bessere Zielgruppe könnte ich mir nicht wünschen. In diesen Kreisen zirkuliert mein Buch und in diesem Jahr, 5 Jahre nach seinem Erscheinen, werde ich immer noch zu Lesungen eingeladen. Spannenderweise werden es immer mehr. Aber noch bin ich nicht an dem Punkt angekommen, dass ich nur vom Schreiben leben könnte. Ich weiß auch gar nicht, ob ich das will. Das ist mir wohl etwas zu prekär. Außerdem mag ich meine akademische und politische Arbeit auch zu sehr. Priorität hat derzeit meine Familie, danach erst kommen Bücher.

DS: Hast du Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen” gelesen?[8] Was treibt jemanden wie ihn um? Geht es nur um das Geld? Und warum ist jemand wie Zafer Şenocak im akademischen Umfeld in den USA mehr bekannt als in Deutschland?

ME: Nein, ich habe „Deutschland von Sinnen“ nicht gelesen. Ich nehme an, dass es ums Geld und die Medienaufmerksamkeit geht. Pirinçci und Co. lassen sich halt vom anti-islamischen Mainstream funktionalisieren. Das kann auch mit verinnerlichtem Rassismus zu tun haben.

Zafer Şenocak ist nicht der einzige Autor of Color, der im Ausland bekannter ist als in Deutschland. Woran das liegt? Warum wandern immer mehr Akademiker_innen of Color aus Deutschland aus, die trotz bester Qualifikationen keine Arbeit in Deutschland bekommen – und das obwohl „Fachkräftemangel“ in Deutschland herrscht. Wieder, diese Leute werden im Ausland mit Handkuss genommen, es gibt in Deutschland so etwas wie ein „Brain-of-Color-Drain“. Das hat ganz einfach mit Rassismus zu tun, die Bilder, welche die Weiße Mehrheitsgesellschaft, insbesondere über anatolische Deutsche hat, passt einfach nicht damit zusammen, dass sie auch erfolgreiche Akademiker_innen oder Künstler_innen sein könnten. Ihr Talent wird ganz einfach nicht wahrgenommen. Im Ausland herrschen nicht unbedingt die gleichen Bilder vor und dort kann es dann möglich sein, dass du dort mehr Aufmerksamkeit oder Arbeit findest als in Deutschland. Auch ich bin noch gespannt, wie es weitergehen wird für mich in Deutschland, wenn ich meinen Ph.D gemacht habe.

Auf eine gute Chance auf Erfolg in diesem Land stelle ich mich nicht zwangsläufig ein.

Daniel Schreiner is a PhD student at the Universität Bonn in Germany.


[1] Ergün, Mutlu: Hayal. Poetische Reflektionen zu Weiß-Sein. In: Eggers, Maisha, Kilomba, Gerda, Piesche, Peggy und Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken & Subjekte. Unrast Verlag: Münster, 2005.

[2] Eine Einführung ins White-Awareness Training ist Katz, Judith: White Awareness: Handbook for Anti-Racism Training. University of Oklahoma Press, 2003.

[3] Im Magazin Freitext (Verlag Freitext Hannover) sind folgende Artikel von Mutlu Ergün erschienen: Micheal Muhammad Knight – The Taqwacores: Die Prophezeiung einer muslimischen Punk-Rock Szene. In Freitext, Vol. 16 (2) 2010: S. 20-24.

Rote Pille – Schmerz zulassen: Die Sozialpsychologie der Rassifizierung. In Freitext, Vol. 15 (1) 2010: S. 16-19.

Schwarze Bilder – Schwarze Zeichner – People of Color als Autoren von gezeichneten Romanen (Gaphic Novels) und Comics. In Freitext, Vol. 14 (2) 2009: S. 16-19.

Larissa Lai: Gender in Fantasy – Mythen, Sexualität und Zukunft in chinesisch-kanadischer spekulativer Fiktion. in Freitext, Vol. 12 (2) 2008: S. 30-37.

Octavia Butler: Race in Space. In Freitext, Vol. 11 (1) 2008: S. 19-24.

Kultur: Dominanz und Widerstand. In Freitext, Vol. 10 (2) 2007: S. 36-40.

James Earl Hardy – HipHop & Homosexualität. In Freitext, Vol. 9 (1)2007: S. 8-11.

Tausend Worte tief – Teil 1 – Eine Stimme aus dem post-migrantischen Widerstand. In Freitext, Vol. 9 (1) 2007: S. 34-36.

[4] Noah Sow ist Journalistin, Musikerin und Anti-Rassismusaktivistin. Sow, Noa: Deutschland Schwarz Weiss. Der alltägliche Rassismus. Goldmann Verlag: München, 2008.

[5] Kara ist das türkische Wort für schwarz und geheim. Günlük bedeutet täglich.

[6] Als Beispiel soll dieser Fußnotentext von Ergün-Hamaz dienen: „War letztens auf einer ähnlichen Veranstaltungen der Black-Community gewesen. Es waren nur Leute mit afrikanischem Hintergrund da, daher war ich mir unsicher, wie willkommen ich bin. Aber die Leute waren cool, die Verantwortliche sprach mich an und sagte, sie verstünden „Schwarz“ als einen politischen Begriff, alle Menschen, die von Rassismus betroffen sind und ethnisiert werden, wären damit gemeint. Also mich eingeschlossen. Ich kenne diesen Ansatz und wir kamen gut miteinander klar. Das ist leider nicht selbstverständlich. Viel zu häufig kommt es zu gegenseitigen Diskriminierungen und auf einmal werden Unterschiede, die anerkannt und respektiert werden sollten, zu einer scheinbar unüberwindlichen Barriere. Aber hier schien es wirklich anders zu sein und obwohl ich sozusagen der einzige P.O.C. mit anatolischem Hintergrund in der Runde gewesen bin, war es völlig in Ordnung. Und ich konnte locker sein. Gut, danach bin ich erst einmal ins Solarium gegangen. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, nicht dass ich irgendjemand denkt, ich sei Weißer.“ In: Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des Sesperado. S. 25.

[7] Neben der schwarzen Bürgerrechtsbewegungen um Martin Luther King oder Malcom X formierte sich in den 1960er Jahren auch das Chicano-Movimiento im Südwesten der USA. Farmarbeiter, Gewerkschafter, Studenten, Aktivisten und Schriftsteller forderten mit Arbeitsniederlegungen, Sit-Ins, Walk Outs und Demonstrationen die kulturelle und politische Gleichberechtigung für Mexican-Americans. Siehe ausführlich u.A. in Gonzales, Manuel G.: Mexicanos. A history of the Mexicans in the United States. Indiana University Press: Bloomington, 2009. Die türkisch-deutsche mit der mexikanisch-amerikanischen Partizipation zu vergleichen ist äußerst interessant und ergiebig, zumal die Prozesse in Deutschland und in den USA unterschiedlich ablaufen und viel über die Machtdiskurse in den einzelnen Ländern verraten. Eine vergleichende Übersichtsarbeit zur Entwicklung der mexikanisch-amerikanischen und türkisch-deutschen Literatur und ihre Interdependenz mit der jeweiligen politischen Zeitgeschichte in den USA und der BRD ist Schreiner, Daniel: Vom Dazugehören – Schreiben als kulturelle und politische Partizipation. Mexikanisch-Amerikanische und Türkisch-Deutsche Literatur im Vergleich. (Promotion Universität Bonn; voraussichtliche Veröffentlichung Sommer 2017).

[8] Akif Pirinçci war der erste türkisch-deutsche Bestsellerautor. Sein Katzen-Krimi „Felidae“ (Goldmann Verlag) aus dem Jahr 1989 wurde sogar ins Englische übersetzt und verfilmt. Nach Jahren der Erfolglosigkeit ist Pirinçci nun als Verfasser kruder verschwörungstheoretischer „Sachbücher“ einmal mehr erfolgreich. Sein Buch „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer. (Edition Sonderwege, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Waltrop, 2014) und die Folgeveröffentlichungen sind allesamt frauenfeindlich, rassistisch und homophob.

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