Jara Schmidt: Postmigrantische Literatur und Germanistik

Reyhan Şahin: Yalla Feminismus!

On the day of the 2020 election in the United States, the MGP is delighted to publish the second guest commentary in our Mission Possible series of hot takes on the purpose of German Studies. Dr. Jara Schmidt, research collaborator at the University of Hamburg’s Institut für Germanistik, captures the essence of recent shifts in German politics and culture that have made a refocusing of our discipline towards transnational, antiracist perspectives not only analytically fruitful, but increasingly unavoidable.

You can find this post in its English translation here.

Postmigrantische Literatur: wütend, widerständig, wehrhaft

Desintegriert Euch! lautet der Titel von Max Czolleks 2018 publizierter Streitschrift, in welcher der Berliner Lyriker und Essayist ein Gesellschaftsmodell vorschlägt, das sich explizit gegen eine deutsche ›Leitkultur‹ und neovölkische Vorstellungen wendet. In seinem neuen Essay Gegenwartsbewältigung (2020) verfolgt er zudem die Idee der radikalen Diversität und eines neuen Verbündet-Seins, das unserer postmigrantischen Gesellschaft gerecht werden und als widerständiges Verfahren gegen den zunehmenden Rechtsruck dienen soll. 

Der Begriff des ›Postmigrantischen‹ wird hier gemäß der Theaterschaffenden Shermin Langhoff »in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft« verstanden. Dem Erziehungswissenschaftler und Soziologen Erol Yildiz zufolge ist die postmigrantische Perspektive zudem eine politische Geisteshaltung, »die auch subversive, ironische Praktiken einschließt und in ihrer Umkehrung provokant auf hegemoniale Verhältnisse wirkt.« (Yildiz, 23)

Als Literaturwissenschaftlerin gesprochen, geht es folglich nicht darum, mit dem Label ›postmigrantisch‹ ein neues literarisches Genre zu etablieren, dass sich einreiht in Genres, wie die sogenannte ›Literatur der Betroffenheit‹, ›Gastarbeiter*innenliteratur‹, ›Migrationsliteratur‹ oder ›Interkulturelle Literatur‹, nur um die Texte besser kategorisieren zu können. Es gibt sicherlich Texte von Autor*innen der postmigrantischen Generation, in denen sich klassische Themen der Migrationsliteratur finden, sodass eine solche Genrefortschreibung naheliegend scheint. Viele der Autor*innen würden eine solche Kategorisierung aber gewiss ablehnen, weil es sie wieder auf etwas festschreibt, das mit ihren persönlichen Hintergründen zu tun hat und nicht in erster Linie mit ihren Texten. Und dann gibt es wieder andere Schriftsteller*innen, vor allem solche, die auch aktivistisch tätig sind, die ganz bewusst zur Selbstbezeichnung ›postmigrantisch‹ greifen und sich in ihren Werken mit verschiedensten Diskriminierungsformen auseinandersetzen. 

In Sammelbänden sowie essayistischer Prosa jüngster Zeit wird zunehmend auf eine intersektionale Diskriminierungen in Deutschland aufmerksam gemacht, wie etwa in: Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum (2019); Kübra Gümüşay: Sprache und Sein (2020); Reyhan Şahin: Yalla, Feminismus! (2019). Was in diesen Gesellschaftskritiken wiederholt zum Tragen kommt, ist eine Frustration darüber, immerzu das eigene Dasein erklären oder sogar rechtfertigen zu müssen, beispielsweise die Herkunft bzw. Abstammung oder die Religion betreffend. Dieser Zustand des Sich-Erklären-Müssens und die Diskriminierungen, die mit ihm einhergehen, münden in ein geradezu kollektives Gefühl: Wut. Diese Basisemotion nach außen zu tragen, wird jedoch insbesondere diskriminierten Personen in der Regel abgesprochen: Während wütende Frauen als unattraktiv, selbstsüchtig, irrational oder sogar hysterisch gelten und Women of Colour, vor allem Schwarze¹ Frauen, oftmals mit dem rassistischen Stereotyp der ›Angry Black Woman‹ degradiert werden (Chemaly, xvii), werden wütende Schwarze Männern meist mit Bedrohlichkeit und Kriminalität assoziiert – wohingegen die Wut weißer² Männer in der Regel mit Leidenschaft und Engagement positiv besetzt wird (ebd., xiv). Diese kollektive Wut sollte jedoch als ein Politikum sowie als Motor und kreatives Ventil aufgefasst werden, weshalb der Frage nachgegangen werden muss, welche Energien und Diskurse sie initiiert – wie etwa in Fatma Aydemirs Debütroman Ellbogen (2017), in dem die Protagonistin ihre aufgrund von gesellschaftlicher Diskriminierung und genderspezifischen Restriktionen angestaute Wut nicht mehr kontrollieren kann und im Affekt einen Totschlag begeht, oder in Karen Köhlers Roman Miroloi (2019), in dem die Protagonistin sich schließlich in der Maskerade der »Angstfrau« (Köhler, 449) einer patriarchalen Unterdrückung widersetzt. 

Why German Studies today? Weil wir (weiterhin) eine Perspektive einnehmen müssen, die intersektionale Diskriminierungsrealitäten und Widerstandspraxen in den Fokus rückt – um so ein Zeichen zu setzen für eine gerechte Gesellschaft, die radikal divers gefasst und geschützt werden muss.

 

¹ Da ›Schwarz‹ nicht als Adjektiv oder Hautfarbe gemeint ist, sondern als politisch gewählte Selbstbezeichnung, in Ablehnung kolonialrassistischer Bezeichnungen, wird es großgeschrieben.

² Um die Konstruktion des Begriffes ›weiß‹ hervorzuheben, wird er kursiv gesetzt. Gemeint ist keine Hautfarbe, gemeint sind die Privilegien, die mit der Hauptfarbe einhergehen.

Literatur

Aydemir, Fatma: Ellbogen, München 2017.

Aydemir, Fatma / Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019.

Bundeszentrale für politische Bildung: »Die Herkunft spielt keine Rolle – ›Postmigrantisches‹ Theater im Ballhaus Naunynstraße. Interview mit Shermin Langhoff«, in: Bundeszentrale für politische Bildung – Dossier für kulturelle Bildung vom 10.03.2011, online abrufbar unter: https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/kulturelle-bildung/60135/interview-mit-shermin-langhoff, zuletzt eingesehen am 22.10.2020.

Chemaly, Soraya: Rage Becomes Her. The Power of Women’s Anger, New York u. a. 2019.

Czollek, Max: Desintegriert Euch!, München 2018.

Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung, München 2020.

Gümüşay, Kübra: Sprache und Sein, München 2020. 

Kastner, Heidi: Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl, Wien 2014. 

Kim, Sue J.: On Anger. Race, Cognition, Narrative, Austin 2013.

Köhler, Karen: Miroloi, München 2019.

Şahin, Reyhan: Yalla, Feminismus!, Stuttgart 2019.

Yildiz, Erol: »Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit«, in: Marc Hill / ders. (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2015, S. 19-36.

About Kumars Salehi

Kumars Salehi is a PhD student in German Literature and Culture.
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