Chronologie

2015

Das bestimmende Thema des Jahres 2015 ist die „Flüchtlingskrise“. Eine detaillierte Chronologie finden Sie hier.

Anfang Januar fordert der Rat für Migration im Kontext der Debatte um Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) eine „Leitbild-Kommission für das Einwanderungsland, die ein Konzept entwickelt, das die gesamte Gesellschaft einbezieht“. Der Rat fordert eine neue Definition für den Begriff „Wir Deutsche“ und eine stärkere Einbindung deutscher Migrationsgeschichte in Lehrpläne. Dies sei vor allem auch notwendig, da Pegida veranschauliche, inwieweit die deutsche Gesellschaft hinsichtlich dieser Themen gespalten sei: „Es geht ein Riss durch die Gesellschaft: Jeder Zweite befürwortet die wachsende Vielfalt, aber jeder Dritte fordert mehr Mut zu einem stärkeren Nationalgefühl und schließt dabei Eingewanderte aus“.

Am 7. und 8. Januar sterben bei islamistischen Anschlägen auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt 17 Menschen. Angela Merkel fährt zum Trauermarsch nach Paris. Als Reaktion auf die Vorfälle entstehen weltweit eine Fülle von neuen Karikaturen, während einige Zeitungen (z. B. Tagesspiegel, FAZ, taz) auch Charlie Hebdos Mohammed-Karikaturen veröffentlichen. Ein Brandanschlag auf die Hamburger Morgenpost scheint im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Karikaturen zu stehen, allerdings kann auch Monate später noch kein konkretes Motiv bestätigt werden. Der Anschlag facht die Debatte um die Grenzen von Humor, Religionskritik und Rassismus erneut an.

Dem von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten Religionsmonitor nach stimmt die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime mit gesellschaftlichen Werten wie Demokratie und Pluralität überein. Über die Hälfte der nicht-muslimischen Befragten schätzen den Islam dieser Studie zufolge allerdings als Gefahr ein. Islamfeindlichkeit, die in den letzten Jahren stetig zugenommen hat und sich durch sämtliche Schichten zieht, stellt somit ein Hindernis für Integration dar. Eine ebenfalls von der Bertelsmann Stiftung durchgeführte Umfrage zur „Willkommenskultur“ in Deutschland spiegelt diese Ergebnisse in anderer Hinsicht wider. Im Vergleich zu 2012 ist die deutsche Gesellschaft offener gegenüber Einwanderern geworden und eine verbesserte „Willkommenskultur“ wird weiter gefordert. In Ostdeutschland, so das Ergebnis der Umfrage, herrscht mehr Skepsis gegenüber Migranten als in Westdeutschland. Insgesamt 97% der Befragten erwarten, dass sich Zuwanderer an die deutsche Gesellschaft anpassen.

Während eines Treffens mit dem türkischen Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu wiederholt Kanzlerin Angela Merkel den vier Jahre zuvor vom damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff geäußerten Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland – und das ist so, dieser Meinung bin ich auch.“ Gleichzeitig betont Merkel, dass sie weiterhin nicht für eine volle EU-Mitgliedschaft der Türkei eintritt. Die Kanzlerin bekräftigt ihre eigene Aussage zur Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland Ende Juni, als sie zum ersten Mal offiziell an einer Veranstaltung zum Fastenbrechen im Ramadan teilnimmt.

Im Februar veröffentlichte der Politologe Werner J. Patzelt der Technische Universität Dresden die erste wissenschaftliche Studie bezüglich die Fragen, wer die Pegida-Demonstranten sind und wie sie denken. Unter den Ergebnissen von Patzelt waren, dass der durchschnittliche Pegida-Anghänger politisch weit rechts der Mitte steht, aber bezeichnet sich nicht als faschistisch oder rechtsextrem, und je ausländer- und islamfeindlicher die Ideen eines Demonstranten, um so weniger fühlt er von den “etablierten Parteien” repräsentiert. Im Analyse der Ergebnisse von Patzelt und anderen bemerkte Karl-Heinz Reuband, dass Pegida-Demonstranten mehrheitlich Männer sind und durchschnittlich im Alter von 44-48. Laut eine Reubands interessantester Schlussfolgerungen, die in Patzelts Studie nicht angesprochen wurde, sind Menschen mit höherem Bildungstand bei den Demos überrepräsentiert, und Menschen mit erweitertem Hochschulbildung noch mehr überrepräsentiert.

Aufgrund von islamistischen Anschlagsdrohungen wird die für den 19. Januar von Pegida angekündigte Demonstration in Dresden, sowie geplante Gegenveranstaltungen abgesagt. Die zuständige Polizei erließ aus Sicherheitsgründen am Tag zuvor ein allgemeines Demonstrationsverbot. Die konkreten Hinweise auf die Pegida-Versammlung sind Teil weiterer Warnungen zu potenziellen terroristischen Anschlägen auf deutsche Bahnhöfe, auf die Behörden mit einer Erhöhung der Anzahl von patrouillierenden Polizisten reagieren. Knapp einen Monat später findet der Braunschweiger Karnevalsumzug ebenfalls aufgrund von Terrorgefahr nicht statt.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) untersucht in der Studie „International Mobil. Motive, Rahmenbedingungen und Folgen der Aus- und Rückwanderungen deutscher Staatsbürger“ die Migrationsströme deutscher Auswanderer und Rückkehrer. Weiterhin wandern mehr Deutsche aus als zurückkehren. Allerdings kommt die Studie zu dem Schluss, dass es sich bei der derzeitigen Mobilität eher um „Brain Circulation“, und nicht „Brain Drain“, handelt, denn die meisten Auswanderer planen, nicht dauerhaft im Ausland zu bleiben. Unzufriedenheit spielt als Motiv sowohl bei Auswanderern als auch Rückkehrern eine entscheidende Rolle.

Mitte März stellt die Bundesregierung die Studie „Schulbuchstudie. Migration und Integration“ vor. Die Autoren beanstanden, dass deutsche Schulbücher hauptsächlich stereotype Darstellungen bei der Themenbehandlung von Einwanderung (der Flüchtling, kriminelle Ausländer) aufweisen und das gegenwärtige Leben von Migranten in Deutschland kaum einbeziehen.

Anfang April zeigen veröffentlichte Daten der Bundesregierung, dass die Anzahl der Ausländer, die von Deutschland ausgewiesen werden, in den letzten Jahren ständig zurückgegangen ist.

Das literarische Projekt „Glaube, Liebe, Hoffnung. Nachrichten aus dem christlichen Abendland“ von Gregor Weichbrodt und Hannes Bajohr sammelt Kommentare auf Pegida-Facebookseiten der letzten Monate. „In dem die angebliche Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden aus dem Hohelied der Liebe konfrontiert werden, lassen wir sie selbst artikulieren, was sie glauben, lieben und hoffen“, erklären die beiden Autoren. „Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentatoren, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind“.

Ende April veröffentlicht der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) das Jahresgutachten 2015 Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich. Das seit sechs Jahren jährlich durchgeführte Gutachten findet lobende Worte für Deutschland, da das Land mittlerweile mit traditionellen Einwandererländern wie Kanada oder den USA beim Thema Migration mithalten könne. Dies gelte insbesondere für die Arbeitseinwanderung, da Deutschland in der Hinsicht mittlerweile selbst zum Vorbild avanciert ist. Aufholen müsse Deutschland aber weiterhin beim Entwickeln einer umfassenden Zuwanderungsstrategie. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt der im Juni veröffentlichte MIPEX 2015 (Migrant Integration Policy Index) der Migration Policy Group: der Index vergleicht die Integrationspolitik von 38 Ländern. Deutschland erreicht den 10. Platz. Der MIPEX zeigt, dass Deutschland die Situation für Einwanderer in den letzten Jahren erheblich verbessert hat. Integration gelingt vor allem auf dem Arbeitsmarkt und auch die Einstellung der Bevölkerung zu Einwanderung hat sich zum Positiven gewandelt. Allerdings zeigt sich, dass Migranten wenig Rechtswege offenstehen, um gegen Diskriminierung vorgehen zu können, und auch bei der gesundheitlichen Versorgung für Einwanderer hapert es.

Die Anfang Juni publizierte Studie „Faith in European Project Reviving. But Most Say Rise of Eurosceptic Parties Is a Good Thing“ des amerikanischen Pew Research Center schlussfolgert, dass das Vertrauen in die EU wieder angestiegen sei. Die über 6000 Befragten aus sechs Mitgliedsstaaten schätzen auch die wirtschaftliche Lage für ihr jeweiliges Land eher positiv ein. Ebenfalls positiv sah die Mehrheit der Umfragenteilnehmer den Aufstieg von sogenannten „euroskeptischen“ Parteien, da diese Themen ansprachen, die die traditionellen Parteien eher ignorieren würden.

Am 4. Juli wählt die Alternative für Deutschland (AfD) beim Essener Parteitag Frauke Petry mit knapp 60 Prozent zur ersten Parteisprecherin. Petry gewinnt damit einen monatelang anhaltenden Machtkampf mit Bernd Lucke, der nur 38 Prozent der Stimmen erhält. Der Abgang von Lucke rückt die AfD weiter ins rechte, auch rechtsextreme, politische Spektrum.

Mitte Juli erregt das Aufeinandertreffen von Kanzlerin Angela Merkel mit dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil die Gemüter. Während eines Bürgerdialogs kommt es zu einem Gespräch zwischen Reem und Merkel: die Bundeskanzlerin verweist aufs deutsche Asylrecht und reagiert auf die Tränen der Zwölfjährigen, die gerne in Deutschland bleiben möchte, indem sie ihr unbeholfen eine Hand auf die Schulter legt. Merkels Reaktion sorgt unter dem Hashtag #merkelstreichelt für heftige Reaktionen. Für Diskussion sorgt auch der Umstand, dass die Bundesregierung den Bericht über den Vorfall im Nachhinein ändern lässt.

Im Juli wird bekannt, dass zwei Brüder der ermordeten Hatun Sürücü in der Türkei wegen Beihilfe angeklagt werden. Der „Ehrenmord“ von Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 durch ihren jüngsten Bruder, der 2014 nach einer mehrjährigen Haftstrafe in die Türkei abgeschoben wurde, hatte in Deutschland eine heftige Integrationsdiskussion ausgelöst.

Die erste Hälfte des Jahres wird von der seit Jahren anhaltenden Staatsschuldenkrise Griechenlands dominiert. Am 15. Juli stimmt das griechische Parlament dem dritten Hilfsprogramm der EU zu, während der Bundestag das Hilfspaket am 19. August absegnet. Nach monatelangem Ringen werden so ein griechischer Staatsbankrott und der Grexit in letzter Sekunde verhindert. Während der Verhandlungen über weitere finanzielle Hilfen und Forderungen der Gläubiger wurde der Ton vor allem zwischen Griechenland und Deutschland sehr hitzig.

Anfang August veröffentlicht das Statistische Bundesamt Ergebnisse zur Zahl der Zuwanderer in Deutschland. Jeder fünfte hat einen Migrationshintergrund und 10,9 Millionen Menschen sind selbst zugewandert. Die einen Monat zuvor veröffentlichte Studie „Indikatoren von Zuwanderung 2015“ der OECD und EU-Kommission zeigt, dass Deutschland bei der Integrationspolitik im Vergleich zu anderen Staaten in vielen Bereichen schlecht abschneidet.

Am 21. August eröffnet in Bochum die Ausstellung „Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet“.

Am 3. Oktober feiert Deutschland 25 Jahre Einheit. In seiner Ansprache, die sich stark auf die „Flüchtlingskrise“ bezieht, betont Bundespräsident Gauck, dass die neue, wohl schwierigere Aufgabe, die auf Deutschland nun zukomme, die Integration der Flüchtlinge und neu Zugewanderten sei.

Am 5. Oktober strahlt die ARD die Verfilmung von Lale Akgüns Tante Semra im Leberkäseland – Geschichten aus meiner türkisch-deutschen Familie aus. Leberkäseland erzählt die Geschichte der kommunistischen Kemalistin Latife, die mit ihrer türkischen Familie nach Deutschland zieht und dort mit ihrer emanzipierten Lebensweise auf die deutsche Provinz stößt. Der Film hinterfragt gängige Erzählmuster über deutsch-türkische Zuwanderungsgeschichte.

Am 17. Oktober greift ein 44-jähriger Mann Henriette Reker, die parteilos für den Kölner Oberbürgermeisterposten kandidiert, und vier weitere Personen an einem Informationsstand der CDU mit einem Messer an. Reker, die im künstlichen Koma liegt, gewinnt die Wahl einen Tag später. Der aus der rechten Szene stammende Täter, der als Motiv die Flüchtlingspolitik nennt, wird knapp ein Jahr später zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Am 10. November stirbt Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974-1982. Gedankt wird Schmidt vor allem auch für seine Verdienste um Europa.

Am 13. November wird Paris von mehreren terroristischen Anschlägen erschüttert. Anschlagsziel ist auch das Stade de France, in dem ein Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich stattfindet. Diskutiert wird vor allem auch die Berichterstattung von ARD und ZDF. Nur vier Tage später wird wegen einer Bombendrohung das Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover abgesagt. Zwar stellt sich der Verdacht, dass Attentäter als Flüchtlinge in Deutschland registriert gewesen sind, als falsch heraus, doch Sicherheitsbedenken wegen der Existenz von falschen Pässen bleiben bestehen.

Ein Göttinger Gericht entscheidet, dass die Ausweisung von zwei Roma-Familien, die seit 17 Jahren in Deutschland leben und deren Kinder überwiegend in Deutschland geboren wurden, gerechtfertigt sei. Das Gericht begründet seine Entscheidung mit fehlender Integrationsbereitschaft und der Tatsache, dass der Kosovo mittlerweile ein sicheres Herkunftsland sei.

Anfang Dezember schockt der hohe Wahlgewinn der rechtsextremen Front National in der ersten Wahlrunde der französischen Regionalwahlen Europa. Marine Le Pens Partei verliert allerdings im zweiten Wahlgang deutlich. Die französischen Regionalwahlen schüren Ängst um die Stabilität Europas.

Eine Anfrage der Grünen an die Bundesregierung bestätigt, dass nach Wissensstand von Regierungsstellen Burka-Trägerinnen kein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellen. Die Grünen-Anfrage ist eine Reaktion auf die allmählich lauter werdenden Forderungen von CDU- und CSU-Mitgliedern nach einem Verschleierungsverbot – selbst für Touristinnen – in Deutschland.

Ende Dezember veröffentlicht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung einen Kurzbericht zur Lohnanpassung von Migranten. Migranten erhalten durchschnittlich deutlich weniger Gehalt als deutsche Arbeitnehmer. Die Studie zeigt beispielsweise auch, dass Migrantinnen von ethnischen Netzwerken profitieren, während sich solche Netzwerke eher negativ für männliche Zuwanderer auswirken.

Die Weihnachtsansprache von Bundespräsident Gauck und die Neujahrsansprache von Kanzlerin Angela Merkel sind zum ersten Mal mit englischen und arabischen Untertiteln verfügbar.