Chronologie

2020

Januar

Am 27. Januar bestätigen bayerische Behörden die erste Corona-Infektion Deutschlands im Landkreis Starnberg.

Februar

Am Mittwoch 19. Februar begeht der rechtsextreme Amokläufer Tobias Rathjen, dessen rassistisches Manifest den Einfluss der Q-Bewegung erkennen ließ, einen Terroranschlag auf zwei Shishabars in der hessische Stadt Hanau. Er erschießt neun junge Menschen, alle mit Migrationshintergrund: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.  Danach erschießt er seine Mutter Gabriele Rathjen und sich selbst. Am selben Tag hatte die Bundesregierung Gesetze gegen Hass im Internet verschärfte. 

Mutmaßliche Merkel-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer tritt vom CDU-Vorsitz und der Kanzlerkandidatur zurück infolge einer Regierungskrise in Thüringen, wo die Zusammenarbeit der Christ-Demokraten mit der AfD gegen die Linke bei der Wahl zur Landesregierung als Tabu-Bruch gewertet wurde. Der Führungsanspruch Kramp-Karrenbauers ist schwer beschädigt, als der wenig bekannte FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsident gewählt wird. Infolgedessen tritt Friedrich Merz, der Herausforderer Merkels bei der Vorstandswahl 2018, von seiner Position im privaten Sektor zurück, um “die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung zu unterstützen.”

Am 27. Februar wird der 46-jährige rechte YouTuber Tim Kellner freigesprochen von einer Beleidigungsklage seitens der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, nachdem er die SPD-Politikerin palästinensischer Herkunft auf seinem populären Kanal als “Islamische Sprechpuppe” und “Quotenmigrantin der SPD” bezeichnete. Chebli nennt das Urteil “eine bittere Nachricht für alle, die von Hass und Hetze betroffen sind, die von Rassisten beleidigt, bedroht und angegriffen werden.”

Die Presse im englischsprachigen Raum nimmt unterdessen die 19-jährige deutsche Bloggerin Naomi Seibt zur Kenntnis. Die sogenannte “Anti-Greta” wird durch Unterstützung der US-amerikanischen konservativen Denkfabrik Heartland Institute zum Social-Media-Star auf YouTube, wo sie den Klimawandel leugnet und konservative Ansichten zu Feminismus und Migrationspolitik äußert. Sie wird eingeladen, an einem Podiumsgespräch zum Thema Klima bei CPAC 2020 teilzunehmen. Der AfD ist sie ebenso willkommen: Obwohl sie ihre Parteimitgliedschaft dementiert, tritt sie bei Veranstaltungen der rechtsextremen Partei auf und gibt 2019 zu, die AfD gewählt zu haben.  

März

Im März starten konservative Medien und Politiker, u.a. Merkels Antisemitismusbeauftragter Felix Klein, eine Kampagne, den geplanten Eröffnungsvortrag des Philosophen Achille Mbembe bei der Ruhrtriennale 2020 in Bochum zu verhindern. Dem führenden Theoretiker des Postkolonialismus aus der ehemaligen deutschen Reichskolonie Kamerun werden Antisemitismus, Relativierung des Holocaust und Infragestellung des Existenzrechts Israels vorgeworfen, nachdem er Kritik an der israelischen Politik gegenüber Palästinensern geübt hatte. In Nordrhein-Westfalen wirft FDP-Landtagsabgeordnete Lorenz Deutsch Mbembe “postkoloniale Israelfeindschaft” vor. Im vorigen Jahr verbot eine überwiegende Mehrheit des Bundestags die öffentliche Finanzierung von Veranstaltungen der von Palästinensern geführten Bewegung für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS). Mbembe kontert, dass er keinerlei Assoziation mit BDS hat, dass “eine angemessene Kritik von Kolonialismus und Rassismus nichts mit der Relativierung des Holocaust zu tun” hat, sondern “ein Schlüsselelement im Kampf gegen Antisemitismus” ist, und bezeichnet die Schmutzkampagne gegen ihn als rassistischen Versuch, seine Forschung zu kriminalisieren. Zahlreiche internationale Forscher erklären sich solidarisch mit Mbembe und kritisieren die Einseitigkeit der deutschen Gedenkkultur.

Deutschland geht ins Home-Office”: Laut einer aktuellen Umfrage des Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) unter mehr als 1.000 Angestellten wären 75,4 Prozent grundsätzlich bereit, während der Coronavirus-Krise im Home-Office zu arbeiten.

Ab 16. März werden Kontrollen an Deutschlands Binnengrenzen zu Österreich, der Schweiz, Luxemburg, Dänemark und Frankreich wieder durchgeführt. Zuvor hatten bereits andere EU-Staaten ihre Grenzen weitgehend dicht gemacht, darunter Dänemark, Polen, die Slowakei, Tschechien und Österreich. Eine weltweite Reisewarnung gilt ab dem 17. März.

Am 17. März verkünden das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) gemeinsam eine vorübergehende Aussetzung der Ansiedlung von Flüchtlingen aufgrund von COVID-19. 

Auch am 17. März werden die Kandidatinnen und Kandidaten der aktuellen Staffel der Reality TV-Serie Big Brother Deutschland, die seit 6. Februar in Klausur lebten, über die Pandemie live informiert

Am 22. einigen sich Bund und Länder auf die erste bundesweite Lockdown-Verordnung zur Bekämpfung des Coronavirus in Deutschland. Im Unterschied zu den meisten anderen westeuropäischen Staaten schreibt die deutsche Regierung keine Ausgangsbeschränkung vor und beschließt stattdessen strikte Maßnahmen zur sozialen Distanzierung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und andere Behörden veröffentlichen Merkblätter und Infografiken zu Hygieneregeln in verschiedenen Sprachen.

April

Anfang April steigt die Zahl der globalen Corona-Fälle auf über eine Million. Deutschland hat mit 1000 Corona-Todesopfern eine der weltweit niedrigsten Sterblichkeitsraten. In diesem Zusammenhang kristallisieren sich Einstellungen zum Umgang mit der Pandemie in den Medien. In den USA sowie im deutschsprachigen Raum wird über das deutsche “Corona-Wunder” gestaunt und debattiert. Die entsprechenden Lockdown-Maßnahmen lösen allerdings auch Proteste aus: in der konservativen Presse, wo sie als “Gesundheitsdiktatur” bezeichnet werden, und auf der Straße bei den sogenannten Hygiene-Demos der deutschen Anti-Lockdown-Bewegung, die aus verschiedenen rechtsextremen und verschwörungsgläubigen Gruppen besteht und unter dem Motto des “Querdenkens” in mehreren Städten an Dynamik gewinnt. Andere Kommentare kritisieren die Fetischisierung von Arbeitern mit sogenannten systemrelevanten Berufen. “Nennt sie nicht Helden”, lautet die Schlagzeile einer Kolumne in der Zeit von Alice Bota, die schreibt, dass Heldenanbetung wenig nützt, insbesondere nicht denjenigen, die das höchste Risiko tragen und dafür immer noch unterbezahlt werden.  

Aufgrund der niedrigen Erkrankungszahlen im Land verkündet Merkel am 15. April eine Lockerung des Lockdowns, was allerdings nicht verhindert, dass die Infektionsrate wieder steigt und die Maskenpflicht zuerst in einigen Bundesländern und dann am 22. bundesweit eingeführt wird. 

Deutsche Sportfans kritisieren die Pläne der Deutschen Fußball Liga (DFL), die Bundesliga-Saison im Mai fortzusetzen in der Form von Geisterspielen, die ohne Anhänger im Stadion gespielt werden sollen. In einem Brief an die Öffentlichkeit attackiert die bundesweite Organization deutscher Fanszenen die Entscheidung, die Spiele wieder zu starten, was sie für “schlicht absurd” halten: “Fußball hat in Deutschland eine herausgehobene Bedeutung, systemrelevant ist er jedoch ganz sicher nicht.”

Nachdem Merkels Christdemokraten 2017 mit dem parlamentarischen Aufbruch der AfD an Boden verloren und 2019 in der Wahl zum Europaparlament ein Rekordtief von 29% bekommen haben, werden die Unionsparteien plötzlich populär. Bayern-Premier und CSU-Chef Markus Söder wird in den Medien als Krisenmanager gelobt. Söder überholt sogar Merkel als beliebtester Politiker Deutschlands und geht regelmäßig bei Umfragen als eindeutiger Favorit im Rennen um die Spitzenkandidatur der Union bei der Bundeswahl 2021 hervor, obwohl er selbst behauptet, im nächsten Wahlkampf nicht kandidieren zu wollen. 

Ende April wird der Neonazi Stephan Ernst von dem Bundesanwaltschaft für den Mord des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke angeklagt. Das Attentat auf den CDU-Politiker, der als lokaler Stellvertreter und starker Befürworter der sog. Merkelschen Asylpolitik in der rechten Szene Hessens zum Sündenbock gemacht wurde, war der erste Mordanschlag auf einen Beamten seit dem zweiten Weltkrieg. Die Familie Lübcke, die als Nebenkläger auftritt, glaubt nicht an die Alleintäterschaft Ernsts und fordert, dass auch der Nebenangeklagte Markus Hartmann für den Mord verurteilt wird. Der Spiegel fragt, warum die beiden Männer von den Sicherheitsbehörden als “abgekühlte” Extremisten eingestuft und nicht weiter beobachtet wurden. 

Mai

Am 16. Mai wird die Bundesliga die erste große Sportliga der Welt, die ihre Saison fortsetzt. Besonders auffallend sind beim Fußballverein Borussia Mönchengladbach rund um 13.000 lebensgroßen Pappfiguren, die mit den Gesichtern real existierender Dauerkarteninhaber in ihrem Heimstadion im Borussia-Park aufgestellt werden. 

Juni

Im Sommer werden dank der Black-Lives-Matter-Bewegung Rassismus, Polizeigewalt und das koloniale Erbe Deutschlands zum Thema wie nie zuvor. Im Juni erhält der erste schwarze Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby mehrfache Morddrohungen. Es wird auf sein Wahlkreisbüro in Halle geschossen, nachdem der SPD-Politiker, der in den 80’er Jahren aus Senegal in die DDR eingewanderte, sich kritisch äußert gegenüber der deutschen Tendenz, Rassismus als bloße Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit zu verniedlichen. 

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagt in einem Interview: “Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte,” worauf der Bundesinnenminister und ehemalige CSU-Chef Horst Seehofer antwortet: “der Vorwurf eines latenten Rassismus in der deutschen Polizei stößt bei mir auf absolutes Unverständnis.” Seehofer und andere konservative Führungskräfte verteidigen die deutschen Sicherheitskräfte auch gegen progressive Stimmen in der Presse. Als die deutsch-iranische Autor*in Hengameh Yaghoobifarah eine provokante, polizeikritische Kolumne in der Tageszeitung schreibt, wird von Seehofer mit einer Strafanzeige gedroht.  

Die pandemie-bedingte Schließung von Museen, Theatern und Konzerthäusern bedroht die Existenz von Künstlern und Kulturschaffenden. Am 17. Juni stimmt der Bundesrat dem Rettungs- und Zukunftsprogramm NEUSTART KULTUR von einer Milliarde Euro zu. Während die Staatsministerin für Kultur- und Medien Monika Grütters wiederholt für eine Öffnung der Museen plädiert, gibt es auch eine Vielfalt von kreativen Ansätzen, Kulturprogramme virtuell zugänglich zu machen durch Übertragung von Hauskonzerten, Livestream und On-Demand Angeboten von Ausstellungen, Aufführungen, Vorträgen und Festivals. Das Online-Magazin Monopol veröffentlicht eine fortlaufende Serie von Beiträgen zu “Corona-Krise und die Kunst”. 

Mitte Juni kommt es zu einem massiven Corona-Ausbruch in Deutschlands größter Fleischfabrik Tönnies im Landkreis Gütersloh in Nordrhein-Westfalen. Über 1500 Mitarbeiter sind mit dem Virus infiziert. Alle 7000 Mitarbeiter und ihre Familien werden bis 2. Juli unter Quarantäne gesetzt. Der Betrieb muss vorübergehend schließen. Der Ausbruch – kein Einzelfall in der Fleischindustrie – offenbart die branchenüblichen Arbeitsbedingung. Etwa die Hälfte der Arbeiter sind mit Werkverträgen über Subunternehmen beschäftigt, die Mehrzahl stammt aus Polen, Rumänien und anderen osteuropäischen Ländern. Sammelunterkünfte und schlechte Hygienestandards im Betrieb gelten als Ursachen für den Ausbruch. Die Systemrelevanz migrantischer Arbeiter*innen, häufig mit temporären Arbeitsverträgen, in bestimmten Wirtschaftssektoren im Niedriglohnbereich, wo “Home Office” keine Option ist, wie der Fleischindustrie, dem Baugewerbe, der Landwirtschaft, dem Gesundheits- und Reinigungsgewerbe bleibt im Blickfeld der Politik. Ein Verbot von Werkverträgen wird im Bundestag erwogen. 

Juli 

Im Juli werden Rassismusvorwürfe gegen die staatlichen Sicherheitskräfte offenbar durch eine Reihe von Enthüllungen über die Polizei und Bundeswehr gerechtfertigt. In Hessen werden Verbindungen entdeckt zwischen der Polizei und Drohmails mit rassistischen und frauenfeindlichen Inhalten, verschickt vom anonymen Absender “NSU 2.0” an linke Politiker*innen und Journalist*innen sowie eine Anwältin im NSU-Prozess. In mehreren Medienberichten werden auch die rechtsextreme Aktivitäten der Social-Media-Leiter der Bundeswehr Oberstleutnant Marcel Bohnert sowie Hetz-Kampagnen und sogar Umsturzpläne aktiver und ehemaliger Bundeswehrsoldaten in einer Telegram-Chat-Gruppe offenbart. 

Laut einem Bericht im Spiegel versucht ein Netzwerk rechter deutscher Intellektuellen in Kanada, unter ihnen die ehemalige ARD-Sprecherin Eva Herman und ihr Lebensgefährte, der Verschwörungsideologe Andreas Popp, gleichgesinnte Deutsche weg vom “Kriegszustand” in der Heimat in die Provinz Nova Scotia zu locken, um eine rechtsgerichtete “Kolonie” in Cape Breton zu gründen. 

August

Dem akuten Mangel an Pflegekräften soll durch Rekrutierung im Ausland – im Kosovo, den Philippinen und Mexiko – abgeholfen werden, diese Maßnahmen werden jedoch wegen pandemiebedingten Reisebeschränkungen unterbrochen.

Am 27. August einigen sich Bund und Länder außer Sachsen-Anhalt auf eine nationale Schutzmasken-Verordnung mit einer 50-Euro-Strafe für Maskenverweigerer. Konservative Medienorgane wie die von Axel Springer betriebene Welt kritisieren dieses Mandat scharf aus vermeintlich antiautoritären Gründen. Am 29. August versammeln sich auf dem Alexanderplatz in Berlin ca. 18.000 Demonstranten, von den Medien “Corona-Rebellen” geheißen, ohne Masken aber mit lautstarker Propaganda für Donald Trump und Q-Anon. Die deutsche Q-Anon-Bewegung besteht aus einer Koalition von Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubigen, unter anderem den sogenannten Reichsbürgern—Anhänger der Theorie, dass Deutschland seit dem Ende des ersten Weltkriegs ununterbrochen durch eine Militärbesatzung insgeheim von Amerika regiert worden sei—die vor der Präsidentschaft Trumps den USA feindlich gesinnt waren, jedoch glauben, dass Präsident Trump vorhat, die Reichsgrenzen von 1871 wiederherzustellen. Zu den Verhafteten gehört der vegane Kochbuch-Autor und selbsternannte “Ultrarechte” Attila Hildmann, dessen eigene Anti-Lockdown-Demo in Juli von den Berliner Behörden verboten wurde.  

September

Im englischsprachigen Raum wird Deutschland weiter als Vorbild gesehen: Laut einer Reportage der britischen Financial Times wird das deutsche Corona-Wunder nicht nur den Führungsqualitäten Merkels, sondern auch der Tradition der Konsenspolitik und dem hohen Maß an sozialem Vertrauen im Land zugeschrieben: “Langsam aber sicher, slow but sure, is the abiding principle that dominates public life. Create consensus where you can; value thoroughness in a politician over rhetorical flourishes.” 

Die Debatte um den Rassismus, der unter der Oberfläche der Konsenspolitik die staatlichen Institutionen durchdringt, erhitzt sich im September weiter. Als das Flüchtlingslager Moria auf dem griechischen Insel Lesbos brennt und Bürgermeister anbieten, einige der über 12.000 obdachlosen Flüchtlinge aufzunehmen, dringt Innenminister Seehofer auf Härte: da die EU-Staaten sich nicht auf eine einheitliche Asylpolitik einigen können, dürfe Deutschland nicht im Alleingang handeln. Die Unionspolitiker einigen sich schließlich auf die Aufnahme von 1.500 Flüchtlingen, überwiegend unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Kindern. Eine einheitliche Asylpolitik der EU steht weiterhin aus, trotz des am 23. September von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen neuen Migrations- und Asylpakets, das “verbesserte und schnellere Verfahren im gesamten Asyl- und Migrationssystem festlegt” und für “gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidarität” plädiert. 

Trotz wiederholter Rechtsextremismus-Skandale in den vergangenen Monaten, in denen die Aufdeckung rassistischer Chatgruppen auf breite Netzwerke faschistischer Polizisten hinweisen, lehnt Seehofer eine rein polizeibezogene Rassismus-Studie ab und verweist auf den Bedarf nach “einem wesentlich breiteren Ansatz für die gesamte Gesellschaft”: “Eine Studie, die sich ausschließlich mit der Polizei und dem Vorwurf eines strukturellen Rassismus innerhalb der Polizei beschäftigt, wird es mit mir nicht geben”, erklärt der CSU-Politiker. 

Am 26. September gesteht der Generalsekretär des Deutschen Fußball-Bund (DFB) Friedrich Curtius Fehler im Umgang mit Mesut Özil, dem früheren deutschen Nationalspieler, der im Vorspiel der Enttäuschung in der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 für heftige Kritik in den deutschen Medien sorgte, als er sich mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan fotografieren ließ. Dem damaligen Arsenal-Spieler Özil wurden doppelte Loyalität und dann die Schuld am WM-Ergebnis angelastet. Am 22. Juli 2018 erklärte er seinen Abschied aus der Nationalmannschaft und äußerte Rassismusvorwürfe gegen den DFB und seine Mitspieler

Am 29. September beriet eine Podiumsdiskussion vor einem Online-Publikum über die Verwendung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz oder im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes plädiert dafür, den Begriff durch „rassistische Diskriminierung“ oder „rassistische Zuschreibung“ zu ersetzen, weil “Rasse” die Terminologie der Nationalsozialisten reproduziere und die Existenz von Menschenrassen festschreibe. Gegenstimmen betonen, dass „Rasse“ im Recht nicht als biologisches Merkmal, sondern als juristisches Instrument genutzt wird, um Diskriminierung und gerade auch strukturelle Benachteiligung zu benennen. „Rasse“ sei ein soziales Konstrukt und eine Weglassung des Begriffs würde die soziale Realität von Menschen aus den Augen verlieren, die Rassismus erleben. 

Oktober 

Im Oktober rücken Wörter und das deutsche Wortschatz wieder in den Fokus als die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) sich darauf vorbereitet, das deutsche Wort des Jahres auszuwählen. Das Jugendwort des Jahres, das durch eine vom Langenscheidt-Verlag veranstaltete Wahl in München und dieses Jahr zum ersten Mal durch ein Online-Voting-System von Jugendlichen im Internet selbst direkt ausgewählt wird, ist “Lost” im Sinne einer ahnungslosen Person. 

Der Konrad-Adenauer-Stiftung, eine Denkfabrik im Lager der CDU, plädiert gegen den Verbrauch der Namen “Palästina” sowie “Palästinenser” aufgrund deren vermeintlich “antisemitischen Assoziationen”. Der prominente Web-Persönlichkeit Tilo Jung, Moderator des populären YouTube-Interviewprogramms Jung & Naiv, schreibt auf Twitter, “Die Konrad-Adenauer-Stiftung arbeitet daran ‘Palästina’ und ‘Palästinenser’ aus dem Wortschatz zu verbannen”, gefolgt von einem Clowngesicht-Emoji und Bildschirmfotos einer Einladung zur KAS-Veranstaltung namens “‘Palästina’ – Geschichte und Problematik eines Begriffs”. 

Zur selben Zeit verklagen Menschenrechtsverteidiger den Bundestag wegen Verletzung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch staatliche Vermischung von Antisemitismus und Israelkritik in einem Beschluss, der 2019 die internationale BDS-Bewegung (Abkürzung von “Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen”) zur Unterstützung von palästinensischer Befreiung und Bürgerrechte als antisemitisch verurteilt und zum ersten Mal die finanzielle Förderung von Projekte oder Institutionen, die zum Israelboykott aufrufen, auf Bundesebene verboten hat und von der UNO gerügt wurde. 

Am 19. Oktober berät Kanzlerin Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und Integrationsministerin Annette Widman-Mauz mit Vertretern von rund 40 Migrantenverbänden über die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Nach einer Studie des OECD sind Migranten von hohen Infektionszahlen und Sterblichkeit besonders hart betroffen. Prekäre Arbeitsverhältnisse in Branchen mit hoher Ansteckungsgefahr und beengte Wohnsituationen sind dabei entscheidende Faktoren.


November

Nach dem Messerangriff in der Basilika Notre-Dame in Nizza am 29. Oktober, worin drei Betende von einem tunesischen Migranten getötet wurden, verteidigt der rechtsliberale Präsident Frankreichs Emmanuel Macron Karikaturen vom Prophet Mohammed, und sein Bildungsminister Jean-Michel Blanquer erklärt den “Islamo-Gauchismus” im französischen Universitätssystem zum Volksfeinde. Spannungen im Bereich Migration und Islam erhöhen sich europaweit, auch im deutschsprachigen Raum: Österreichs konservativer Kanzler Sebastian Kurz reagiert am selben Tag ähnlich als eine Kirche in Wien von einer Menge Jugendlichen türkischer Herkunft gestürmt wird. Er gelobt, Christen und den “europäischen ‘Way of Life’ mit aller Kraft gegen Islamisten und den politischen Islam [zu] verteidigen”, ein Versprechen, dass er noch einmal wiederholt, als am 2. November in Wien 4 Personen getötet und Dutzende verletzt werden in einem Anschlag, der von der IS-Miliz reklamiert wird. 

Bei ihrem Parteitag am 22. November torpediert die Führung der Grünen einen Antrag aus dem linken Flügel der Partei, der lediglich vorgesehen hat, das 1,5-Grad-Ziel des Klimaabkommen von Paris nur als “Maßgabe” und nicht Endziel grüner Politik ins Grundsatzprogramm zu schreiben. Annalena Baerbock, seit 2018 gemeinsam mit Robert Habeck Bundesvorsitzende der Grünen, schließt höhere Emissionsminderungsziele strikt aus, was in den Medien als Signal der Koalitionsbereitschaft an die CDU/CSU gedeutet wird. 

Laut der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ist das Wort des Jahres “Corona-Pandemie”. Zu den anderen Kandidaten für die Spitzenposition unter den ausgewählten zehn Phrasen gehören auch to “Verschwörungserzählung”, “Gendersternchen” und “Black Lives Matter”.

Spät am 30. November verkündet das Bundesinnenministerium, dass Innenminister Seehofer den rechtsextremen Verein “Sturmbrigade 44” (auch “Wolfbrigade 44”) nach mehreren Razzien in drei Bundesländern als verfassungswidrig verboten hat. In Sachsen-Anhalt wurden ähnliche Durchsuchungen durch die Verwaltungsgerichte verhindert. 

Dezember 

Im Dezember berichten die deutschen Medien über das wachsende Neologismenwörterbuch der Corona-Krise, in dem der neue Wortschatz vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache zusammengetragen wird. Enthalten sind schon mehr als 1000 “neue Wörter sowie bekannte Wörter mit neuen Bedeutungen, die seit Beginn der COVID-19-Pandemie aufgekommen sind, bei denen wir aber noch beobachten, ob sie eine gewisse Verbreitung in die Allgemeinsprache erfahren werden”. Das heißt, man sieht technische und Alltagsbegriffe wie etwa “Mindestabstandsregelung” sowie ”Impfstoffmafia” und andere merkwürdige Formulierungen, deren verbreiteter Gebrauch fraglich bleibt. 

Die digitale Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin am 17. Dezember löst eine Diskussionswelle aus, die nach den Protesten und Debatten zum Rassismus im Sommer viel breiter und kritischer den Umgang mit dem kolonialen Erbe Deutschlands thematisiert. Besonders umstritten ist die Präsentation der sogenannten Benin-Bronzen, Raubkunst aus der europäischen Kolonialgeschichte in Afrika, die als Kernstück der ethnologischen Sammlung im neuen Museum ausgestellt werden und deren Restitution jahrelang von der nigerianischen Regierung gefordert worden ist. 

Am 17. Dezember loben Merkel und der Gesundheitsminister Jens Spahn per Videokonferenz die deutsch-türkische Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin, jetzt berühmt als die Gründer der Firma BioNTech, wo in Zusammenarbeit mit Pfizer der erste Corona-Impfstoff des Westens entwickelt wurde: “Wir sind mächtig stolz, auch als Bundesregierung, das bei uns im Lande solche Forscher da sind,” sagt die Kanzlerin. Die deutsche sowie englischsprachige Medien ergreifen die Gelegenheit, die zwei Wissenschaftler für ihre Erfindung zu feiern, aber manche Kommentare warnen vor Narrativen, die eine individuelle Erfolgsgeschichte zum Standard der Integration machen oder die Herkunft ihrer Helden im rhetorischen Kampf gegen rechte Einwanderungsgegner instrumentalisieren. 

Merkel und ihre Minister erfreuen sich in ihren Rollen als Krisenmanager weiterhin großen Zuspruchs: Laut einer Umfrage ist der Bundesgesundheitsminister Spahn derzeit beliebtester Politiker Deutschlands. Dieses Ergebnis wird darauf zurückgeführt, dass in Krisenzeiten im allgemeinen die Staatsmacht einen deutlichen Popularitätsschub erlebt. 

Nach Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, sinkt die Anzahl der 2020 gestellten Asylanträge im Vergleich mit 2019 um 26,4% auf 102.581 Erstanträge. Das ist in erster Linie auf die pandemiebedingte Schließung nationaler Grenzen und erschwerte Reisebedingungen zurückzuführen. Der Höchstanteil der Antragsteller (35,5%) kommt weiterhin aus Syrien. Abschiebungen in Krisengebiete werden auch während der Pandemie durchgeführt.