Septembertee oder Das geliehene Leben

In ihrem 50. Lebensjahr steht Renan Demirkan am Grab ihrer Mutter in deren türkischem Heimatdorf, erinnert sich noch einmal an die gemeinsamen Jahre und fragt nach den Vorstellungen von Leben und Glück, die ihre Generation mit der ihrer Mutter zugleich verbanden und von ihr trennten. Demirkan kam als Siebenjährige nach der türkischen Staatskrise 1962 nach Deutschland, wuchs in Hannover auf und machte Karriere als Schauspielerin und Autorin. In diesem Buch zieht sie die bewegende und sehr persönliche Bilanz eines Migrantenlebens, das geprägt war von der Frage nach der Identität zwischen den Kulturen. Diese »zwei Leben in einer Haut«, so das Credo von Renan Demirkan, waren Last und Chance zugleich.

Book Review by UC Berkeley undergraduate Julia Schroeder:

In der 2008 erschienenen Autobiographie “Septembertee: oder das geliehene Leben” beschreibt die Autorin Renan Demirkan nicht nur ihre durch den schmerzvollen Verlust der Mutter ausgelöste Identitätskrise, sondern auch die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Kindheit zwischen zwei Welten. Es ist eine Retrospektive, in der sie den Leser einlädt, ihre Entwicklung als eine in Deutschland lebende Gastarbeitertochter mitzuerleben.

Das Buch ist eine Liebeserklärung einer Tochter an ihre Mutter, aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Menschen und der Auslaenderpolitik in Deutschland, in das sie 1962 als siebenjähriges Mädchen kam. Die Autorin sagt gleich zu Beginn, dass sie beschreiben möchte, “welche Berührungen mein Wachsen und Verwachsen begünstigt, behindert und gefördert haben” (Demirkan, 15). So ist dieses Buch auch eine Art Bildungsbiographie in der die Autorin ihre Metamorphose von der türkischen Gastarbeitertochter zur Schauspielerin, Schriftstellerin, Mutter und Bürgerin mit doppelter Staatsbürgerschaft beschreibt. Das Buch hat eine starke emotionale Ebene, literarische Dichte und regt in der politischen Diskussion zum Nachdenken an. Obwohl Demirkan viele Themen und Tragödien der türkischen Immigrantenfamilien der ersten Generation beschreibt, ist ihre Geschichte nicht unbedingt typisch.  Demirkan war eine Art “Musterkind”, und hatte vielleicht auch Glück in einer Familie aufzuwachsen, die Bildung wichtig fand. Demirkans Geschichte ist ein Lichtblick, aber auch eine Ausnahme. Demirkan hat für ihre Rechte in Deutschland gekämpft. So kritisiert sie auch die deutsche Auslaenderpolitik, die oftmals Menschen daran hindert, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Doch ihre Story hat ein happy end und gibt dem Leser einerseits Zuversicht und Mut, andererseits gibt es auch viele offene Fragen.

Zu Beginn der Autobiografie “Septembertee” erfährt die Autorin einen schmerzvollen Verlust. Der Tod ihrer Mutter führt zu einer Identitätskrise. Demirkan findet sie sich in einer “verkehrten Welt’, denn “wer seine Mutter verliert, verliert eine ganze Welt” (19).  Sie beschreibt ihre Mutter so: “sie war mein Planet, mein Almanach, meine Bibliothek” (19). Selten hat man eine schönere Liebeserklärung an eine Mutter gelesen. Hier liegt auch die Stärke des Buches, nämlich mit gefühlter Klarheit und bildhafter Sprache zu beschreiben, was Demirkan erlebte auf ihren “Irrwegen” in Deutschland. Es ist eine bewegte und bewegende Geschichte, voller Bilder und Metaphorik. Als Kind war sie oft einsam und saß „wie eine Topfblume“ am Küchenfenster und träumte davon, am Leben teilzunehmen und nicht nur am Rande zuzuschauen.  Die Auslaenderpolitk in Deutschland  ist so, dass die meisten Tuerken am Rand der Gesellschaft leben, Demirkans  Wunsch ist respektiert zu werden und in der Mitte der Gesellschaft zu leben. Das Buch beschreibt auch den Leidensweg der ersten Generation von Gastarbeitern, die von Integration weit entfernt waren und eigentlich immer noch sind. Damals hatte Deutschland einen Leihvertrag mit Rotationsprozess mit der Türkei. Man wollte verhindern, dass Türken ansässig wurden und blieben.  Für jeden Leiharbeiter zahlte Deutschland ein Leihgeld an die Türkei. Klingt irgendwie nach moderner Sklaverei. Noch unter Helmut Kohl sprach man davon den Anteil der Tuerken um 50% zu senken. Aber wie man das machte und dass man es hier mit Menschen zu tun hatte wurde nicht diskutiert. Auch heute noch ist die Mitte der Gesellschaft irgendwie weit entfernt. Wie kommt man dahin, in die Mitte der Gesellschaft? Ist Bildung der Schlüssel? Demirkan schuldet den Eltern gute Leistungen, denn die Eltern haben ein großes “Opfer” gebracht und sind in Deutschland, um den Kindern ein “besseres Leben” zu geben. Demirkan schreibt: “das Glück in diesem Land grossgesworden zu sein basiert auf dem Unglück der Eltern” (51). Hier erfährt man von der Tragik  der Immigrantenkinder.  Sie sind die Hoffnungsträger der Eltern. Ihr Erfolg ist oft das einzige Lebensziel der Eltern. Die Eltern  leben das “geliehene Leben”,  “ihre inneren Koffer” sind nie ausgepackt worden. Sie leben in einem Ausnahmezustand. Das ist eine tragische Existenz. Doch viele Immigranten leben so, vor allem wenn ihnen die Staatsbürgerschaft und der Zugang zur Bildung nicht offen steht. Doch bei wem muss man die Schuld suchen? Bei sich selbst, der Familie, Politik, Staat, Bildungswesen?  Das Thema ist komplex und Demirkan gibt Ideen für Lösungen, vor allem als sie beschließt zu rebellieren und aus dem Gefängnis der Eltern auszubrechen um sich selbst zu finden. Diese Jahre der Selbstfindung beschreibt sie als den Gang durch einen “Irrgarten”. Sie macht eine klassische Metamorphose und kommt an. Das glückliche Ende ist vielleicht kitschig, aber man wünscht sich, dass Demirkan auch ein Vorbild für andere sein könnte.

Links: Renan Demirkan

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