Jule Thiemann: Digitale Fluchtnarrative und Postmigrantische Perspektiven

Copyright Bild: Adnan Samman; Website: Weiter Schreiben – Ein Portal für Literatur aus Kriegs- und Krisengebieten; einsehbar unter weiterschreiben.jetzt

The latest installment in our Mission Possible series of reflections on the future of German Studies comes courtesy of Dr. Jule Thiemann of the University of Hamburg’s Institut für Germanistik, who argues that the field must turn towards expanding the field of canonical literature to include postmigrant engagement with small forms, digital modes of writing ranging from social media posts to the online curation of poetry and prose by refugees. She writes that centering cultural production from marginalized and precarious voices requires challenging predominant categories of transnational and refugee literature currently delimited by institutions of publication, distribution, and criticism.

Digitale Fluchtnarrative und Postmigrantische Perspektiven: 

Marginalisierte Stimmen – Marginalisierte Formen?

Literarisches Schreiben von nach Deutschland geflüchteten Autor*innen erfährt zwar seit der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ im Jahr 2015 seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft und des Literaturbetriebs verstärkt Interesse und wird von Kulturinstitutionen und staatlichen Initiativen gefördert, verbleibt jedoch noch allzu häufig jenseits der Grenze des Sichtbaren: Die Texte, teilweise in autofiktivem Schreibgestus verfasst, um Themen wie Flucht und Vertreibung, Ankunft und Neubeginn changierend, erscheinen oftmals als kurze Prosastücke – z.B. Essays, Briefe, Blogbeiträge, Feuilletons, Graphic Novels, Comics (vgl. z.B. die Comic-Reportagen Alphabet des Ankommens, unter: https://alphabetdesankommens.de) – auf digitalen Plattformen, deren Agenda es ist, der Literatur Geflüchteter eine Bühne zu geben (vgl. z.B. das Projekt Weiter Schreiben zur Förderung von Autor*innen mit Fluchterfahrung unter: https://weiterschreiben.jetzt),  oder aber in den sozialen Medien, z.B. auf twitter oder facebook

Der Sprung in einen etablierten Verlag gelingt jedoch (bisher) nur wenigen Autor*innen: Etablierte Autoren sind u.a. Abbas Khider, Saša Stanišić und Senthuran Varatharajah. Jüngst ausgezeichnet wurde außerdem das lyrische Werk der aus Syrien geflüchteten Dichterin Lina Atfah. Ist dieser ›Sprung‹ erst einmal geschafft, so verändert die Sichtbarkeit, die ein Buchvertrag mit sich bringt, nicht nur die Position der Schreibenden, sondern auch deren Texte: Bis zur Publikation durchlaufen diese mehrere Lektorat- und Korrekturschleifen, teilweise werden sie aus der Erstsprache der Autor*innen ins Deutsche übersetzt. Nach der Übersetzung, dem Lektorat und Korrektorat, erscheinen dann die mit Labels wie ›Transnationale Literatur‹; ›Interkulturelle Literatur‹ oder ›Fluchtliteratur‹ versehenen Texte als auf dem deutschen Buchmarkt sichtbare Prosa. Mit der Aufnahme in ein Verlagsprogramm greift ein Mechanismus der Etablierung und vor allem der Aufwertung von Texten durch eine Autorität.

Digital veröffentlichte Fluchtnarrative (Tweets, Blogposts, Briefe etc.) hingegen lassen sich oftmals formal einem etablierten literarischen Genre zuordnen: der ›Kleinen Form‹. Die literaturwissenschaftliche und literaturtheoretische Verhandlung Kleiner Formen hat derzeit Konjunktur (vgl. z.B. das DFG-Graduiertenkolleg Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, unter: http://www.kleine-formen.de) und kann als theoretische Rahmung für die Untersuchung dieser digitalen Kurztexte verstanden werden. In diesem Sinne soll gefragt werden, ob sich mit den Fluchtnarrativen in Kleinform nicht gar neue Schreibverfahren sowie Praktiken der (Selbst-)Veröffentlichung etablieren, die eine postmigrantische, flüchtige Realität abbilden. 

So muss sich die Germanistik auch der Frage stellen, ob das Fach es derzeit nicht versäumt, digital publizierte Kurztexte als neue Formen postmigrantischen Schreibens zu untersuchen: Denn sind online publizierte, nicht-lektorierte Texte, denen (wenn überhaupt!) noch ein langer Weg bis zur Rezeption durch ein größeres Publikum oder gar ein Platz in den Bestsellerlisten bevorsteht, nicht eben aufgrund der Unmittelbarkeit ihrer Publikationswege ein wichtiges literarisches Zeugnis der Gegenwart, dem wissenschaftliche Betrachtung gebührt? Welche Reichweite haben diese digitalen Prosastücke, und können sie nicht gerade ob ihrer Positionierung im Internet eine viel größere Sichtbarkeit erreichen, aufgrund ihrer digitalen, uneingeschränkten Distribution? Und was passiert mit solchen Texten, die anfangs ausschließlich digital publiziert werden, bald jedoch im Feuilleton gedruckt oder in Anthologien veröffentlicht werden? Diese Fragen werden Forschende der Germanistik in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen. 

Dabei könnte beispielsweise ein Fokus der zukünftigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen auf der Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Schreibenden als geflüchtete Autor*innen (autofiktive und metapoetologische Kommentierungen, Ablehnung und Reclaiming von Fremdzuschreibungen und Labels als produktive Verfahren, etc.) liegen. Die Texte können als Versuchsanordnungen und künstlerische Selbstbefragungen gelesen werden, im Rahmen derer die Autor*innen in einem neuen Land, einer neuen Stadt und nicht zuletzt in einer neuen Literaturlandschaft Fuß fassen.  

Why German Studies today? Weil wir als Germanist*innen eine Verantwortung dafür tragen, neue literarische Formen und Verfahren der Gegenwart, auch abseits etablierter Publikationswege, zu erforschen. Nur wenn sich die germanistische Forschung für postmigrantische und digitale Schreibweisen öffnet, kann sie den neuartigen künstlerischen Dynamiken und der Schnelllebigkeit von Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht werden.

Literatur 

Alphabet des Ankommens, Webauftritt, online abrufbar unter: https://alphabetdesankommens.de (zuletzt eingesehen am 21.02.2021)

DFG-Graduiertenkolleg Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, Webauftritt, online abrufbar unter: http://www.kleine-formen.de (zuletzt eingesehen am 21.02.2021)

Weiter Schreiben, Webauftritt, online abrufbar unter: https://weiterschreiben.jetzt (zuletzt eingesehen am 21.02.2021)

About Kumars Salehi

Kumars Salehi is a PhD student in German Literature and Culture.
This entry was posted in Blog, Kunst und Sonstiges, Mission Possible, Project Updates (Home Page). Bookmark the permalink.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *