Zerrissene Perspektiven auf die Anhörung im Asylverfahren in zwei Hörspielen

Bildquelle: Bayerischer Rundfunk

Guest contributor Monika Preuß (Technische Universität Dortmund), author of the three-part MGP blog post series on radio plays about the NSU trial, analyzes the rare representation of the interrogation of asylum seekers in two recent German radio plays, “Die Anhörerin” and “Die Ohrfeige,” demonstrating both the ethical dilemma that the German bureaucrat experiences and the intense indignation felt by the subject of the trial. You can read an English translation of this post here.

In etlichen Gegenwartsromanen, die Flucht thematisieren (bspw. Dunya brennt von  Ercüment Aytaç, Der falsche Inder von Abbas Khider, Die Welt ist groß und Rettung lauert überall von Ilija Trojanow), steht das Asylverfahren selbst als bürokratischer Ablauf weniger häufig im Vordergrund. Noch stärker trifft dies auf Hörspiele zu. Zwei Gegenbeispiele sind das Hörspiel „Die Anhörerin“ (2019) des Journalisten Andreas Unger und die Hörspieladaption des Romans Ohrfeige (2016) von Abbas Khider. Sie setzen sich beide mit einem Schlüsselmoment des Asylverfahrens auseinander: den Anhörungen.

Nach dem schriftlichen Antrag ist die Anhörung ein wesentliches Element für die Entscheidung über die Vergabe des Aufenthaltsstatus. In diesen Interviews müssen die Flüchtlinge ihre Fluchtgründe erläutern. Wenn viele Anträge in einem Zeitraum gestellt werden, kann es auch zu längeren Wartezeiten kommen. Diese sind häufig mit prekären Lebenssituationen und Einschränkungen beispielsweise bezüglich des Wohnorts und der Möglichkeit zu Arbeiten verbunden. Die Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens ist zudem sehr belastend. Es hat einen großen Anteil an der Entscheidung über den Aufenthaltstitel. Die Hörspiele entfalten zwei unterschiedliche Perspektiven und sind eindrucksvolle Beispiele für die Möglichkeiten, die Beziehung zwischen „Stimme“ (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn) und Macht darzustellen.

In „Die Anhörerin“ wird Anne als „Entscheiderin“ des „BAMF“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) ausgebildet. Die als „Entscheider*innen“ bezeichneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes (z.B. als Beamt*innen) prüfen häufig die Asylanträge, führen die Anhörungen durch und entscheiden über den Aufenthaltsstatus. Das Hörspiel zeichnet sich durch viele kurze Sequenzen aus, die die verschiedenen Perspektiven Annes und ihres Umfelds auf den Asylprozess in Beziehung setzen. Anne verkehrt in zwei verschiedenen sozialen Kreisen. Ihre Familie und Bekannte aus ihrem bayerischen Heimatdorf sind Flüchtlingen skeptisch gegenüber eingestellt. Sie betrachten die zunehmende Ankunft der Flüchtlinge als ökonomische Belastung für das Land (vgl. 13:29ff.). Sie erkennen aber das Recht auf Asyl grundsätzlich an. Ihre Freunde aus der Zeit ihrer Schauspielausbildung sind eher links eingestellt und fordern einen leichteren Zugang zum Asylstatus. Anne selbst sieht sich zwischen ihrem Willen, den Gesetzen und Regularien zu folgen, und ihrer emotionalen Betroffenheit bei manchen Anhörungen zerrissen (vgl. 31:14ff.). Weder ihre Familie noch ihre Freunde sind fähig, sich in ihre Lage hineinzuversetzen. 

Über Annes Protokolle lernen die Zuhörer*innen den Fall Hassan Farahs kennen. Er ist ein junger Mann, der vor dem Terror der Al-Shabaab Miliz in Somalia flehte. Er selbst kommt nicht zu Wort. Er hat „keine Stimme“. Doch während Anne das Protokoll seiner Anhörung diktiert, hören wir im Hintergrund Schüsse und Schreie (vgl. 21:06ff.). So wird eine weitere Zeichenebene jenseits der Sprache eingeführt. Sie steht in Spannung zur vorstrukturierten Sprache der Anhörung und des Protokolls. Aus der Anhörung lässt sich schließen, dass Hassan Farahs trotz seiner Verzweiflung und Angst vor der Al-Shabaab vermutlich kein Asyl bekommen wird, da eine konkrete individuelle Bedrohungslage nicht nachweisbar ist.

Obwohl die verschiedenen Perspektiven von Anne, ihren Kolleg*innen und Freund*innen  nicht durch einen Erzähler gewertet werden, wird eine differenzierte, zunehmend verantwortungsvolle und nachdenkliche Perspektive durch die Protagonistin Anne vertreten. So schwingt häufiger ein erzieherischer Unterton mit, aber die Stärke des Hörspiels ist dennoch, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander spielen zu lassen.

„Die Ohrfeige“ setzt hingegen einen deutlich anderen Fokus auf die beteiligten Personen. Karim, ein Flüchtling aus dem Irak, knebelt seine Sachbearbeiterin Frau Schulz und erzählt ihr seine Geschichte. Die Machtverhältnisse werden somit kurzzeitig umgekehrt. Frau Schulz, als Vertreterin des Asylverfahrens und des Staates, ist stumm, während Karim sich frei und ungebremst ausdrücken kann. So ist sie gezwungen, ihm zuzuhören. Diese Situation wird am Ende allerdings als Vorstellung entlarvt. 

Das Hörspiel ist, im Gegensatz zum Roman, zweisprachig. Karims Wutrede gegen die unsensible und die den Einzelnen übersehende bürokratische Struktur des Asylverfahrens werden auf Arabisch und Deutsch hörbar (vgl. Kory 2019, 115ff.) . Die Wahl des Arabischen zur Kommunikation steht in starkem Kontrast zu seinen sonstigen Erfahrungen im Asylverfahren, in dem er auf Dolmetscher oder seine eingeschränkten Deutschkenntnisse angewiesen ist. Karim stellt auch heraus, dass das „Nicht-Verstehen können“ nicht nur auf der Ebene der unterschiedlichen Sprachen besteht, sondern vor allen auf den sehr unterschiedlichen Lebensumständen beruht (vgl. 01:39ff.). Ein Verstehen ist nicht möglich. 

Die Überblendungsmöglichkeiten des Hörspiels lassen Arabisch und Deutsch zugleich erklingen. Ein Spiel zwischen dem Anspruch der Vermittlung und den Polen Verstehen und Nichtverstehen wird so möglich. Es bleibt bei aller Fokussierung auf Karims Sicht nur bei einer imaginierten Selbstermächtigung. Die bürokratischen Strukturen lassen das „Fremde“ im Sinne fremder Erfahrungen nicht zu. Nur eine nachträgliche, aber die Machtstrukturen zugleich auch nicht ändernde, Reaktion auf diese Erfahrung ist möglich (vgl. Waldenfels 2006, 42ff.). 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass  verschiedene „Stimmen“ unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in „Die Anhörerin“ und „Die Ohrfeige“ hörbar werden und so eine Polyphonie entsteht (vgl. Moosmüller/ Previšić 2020, 3ff.).

Quellen

  1. Khider, Abbas: Die Ohrfeige. München 2016.
  2. Khider, Abbas/ Tieke, Julia: Die Ohrfeige. Westdeutscher Rundfunk 2016. Veröffentlicht auf CD 2016 durch HörbucHHamburg.
  3. Kory, Beate Petra: Im Dickicht der deutschen Asylbürokratie. Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) und Abbas Khiders Ohrfeige (2016) im Vergleich. In: Baltes-Löhr, Christel/ Kory, Beate Petra/ Sandor, Gabriele (Hrsg.): Auswanderung und Identität. Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration in der deutschsprachigen Literatur. Bielefeld 2019, S. 107-129.
  4. Moosmüller, Silvan/ Previšić, Boris: Polyphonie, Multiperspektivität, Intermedialität. Eine Einführung in die terminologischen Grundlagen und den Aufbau des Bandes. In: Dies. (Hrsg.): Polyphonie und Narration 2020, S. 1-19.
  5. Unger, Andreas: Die Anhörerin. Bayerischer Rundfunk 2019. Abrufbar unter: https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/entscheiden-ueber-das-schicksal-gefluechteter-die-anhoererin-von-andreas-unger/1665937.
  6. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

About Qingyang Freya Zhou

Qingyang Freya Zhou is a PhD candidate in German Studies, with a Designated Emphasis in Film Studies, at UC Berkeley. Her research focuses on the intersections between socialist internationalism and postcolonial studies, particularly the literary and cinematic interactions between Germany and East Asia during the Cold War and beyond.
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