Chronologie

2010

Eine Einladung der türkischen Regierung an türkischstämmige Politiker in Europa zu einem Treffen in Ankara sorgt bei deutschtürkischen Abgeordneten für Unverständnis. Hauptkritikpunkt vieler ist der Versuch der türkischen Regierung, Abgeordnete anderer Länder für türkische Belange einzuspannen. Bereits die Einladung, in der die ausländischen Politiker als Abgeordnete der türkischen Regierung angesprochen werden, stößt auf Ablehnung. Auch Premierminister Recep Tayyip Erdoğans erneut geäußerter Standpunkt, Assimilation sei ein Verbrechen, wird als problematisch angesehen.

Im März wird die erste von Migranten gegründete Partei Deutschlands, Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit – Think BIG (BIG), zu einer Landtagswahl (in Nordrhein-Westfalen) zugelassen. Eine Auswertung mehrerer Studien zeigt, dass fast alle Forschungsprojekte zu dem gleichen Ergebnis bezüglich der politischen Partizipation von Migranten in Deutschland kommen: die Teilnahme von Migranten an politischen Prozessen ist eher gering. Dieser Befund wird vor allem auf den Nichtbesitz der deutschen Staatsangehörigkeit und dem damit verbundenen Ausschluss von Wahlen begründet.

Im April wird Aygül Özkan (CDU) zur Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in Niedersachsen berufen. Sie ist somit nicht nur die erste türkischstämmige Ministerin in Deutschland, sondern auch die erste Muslimin in einer derartigen Position. Bereits vor ihrer Vereidung erregt sie mit der Aussage, dass die Schule frei von religiösen Symbolen sein sollte, Unmut sowohl in der eigenen Partei als auch bei muslimischen Vertretern.

Am 19. April erhält Heinz Buschkowsky (SPD), seit 2001 Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, den Gustav-Heinemann-Bürgerpreis für seinen Einsatz für eine demokratische Gesellschaft, die sich durch eigenverantwortliche Bürger auszeichnet. Buschkowsky wurde deutschlandweit als Kritiker der deutschen Zuwanderungspolitik („Multikulti ist gescheitert“) bekannt.

Im April erscheint Einwanderungsgesellschaft 2010, das erste Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration unter dem Vorsitz von Klaus J. Bade. Es „bietet Trendbeobachtungen und Folgenabschätzungen zur Entwicklung von Integration und Migration sowie kritische Einschätzungen zur Integrations- und Migrationspolitik in Deutschland bis Ende 2009“. Aufgrund von Interviews und Statistiken kommt das Jahresgutachten zu einer relativ positiven Einschätzung im Hinblick auf Integration. Diese Publikation ergänzt den jährlichen Migrationsreport und den zweijährlichen „Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“.

Der finanzielle Bankrott Griechenlands stürzt die europäische Währungsunion in eine schwere Krise. Die finanziellen Probleme Griechenlands sowie anderer EU-Staaten sorgen für ein Ansteigen nationaler, populistischer Rhetorik. So sprechen sich Kritiker der Währungsunion für die Wiedereinführung der Deutschen Mark aus.

Feo Aladags Film Die Fremde und die Hauptdarstellerin Sibel Kekilli werden in der Kategorie Bester Spielfilm und Beste Schauspielerin beim Tribeca-Filmfestival in New York ausgezeichnet. Kekilli hatte bereits den Deutschen Filmpreis 2010 für ihre Rolle bekommen.

Anfang Mai stirbt der deutsche Islamist Eric Breininger bei Kämpfen in Pakistan. Deutsche Sicherheitsbehörden sprechen von einem vermehrten Zulauf von islamistischen Kämpfern aus Deutschland.

Während der Fußballweltmeisterschaft im Juni und Juli in Südafrika wird Deutschland vom Erfolg der „Multikulti-Elf“ mitgerissen. Von 23 Mann im deutschen WM-Kader haben 11 einen Migrationshintergrund. Die deutsche Nationalmannschaft, angefeuert vom deutschtunesischen Rapper Bushido, wird als Vorbild gelungender Integration gefeiert; ihre Siege lassen das Land von einer Neuauflage des Sommermärchens 2006 träumen. Auch außerhalb Deutschlands begeistert das Team: so feiert der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan den deutschtürkischen Nationalspieler Mesut Özil als „unseren Mann“ bei der WM und drückt Deutschland die Daumen. Gleichzeitig erscheint ein Regierungsbericht, der auf weiterhin bestehende, eklatante Probleme bei der Integration von Ausländern in Deutschland hinweist.

Am 3. Juli begeht die Jugendrichterin Kirsten Heisig Selbstmord. Heisig war mitverantwortlich für die Einführung des Neuköllner Modells (benannt nach dem Berliner Stadtteil, in dem Heisig tätig war), ein Programm, das vereinfachte Strafverfahren für jugendliche Straftäter vorsieht. Kurz nach ihrem Tod erscheint ihr Buch Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter, das sich mit der überproportionalen Kriminalität bei ausländischen Jugendlichen auseinandersetzt.

Ende August veröffentlichen Bild und Spiegel Vorabdrucke von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Sarrazin entfacht mit seinen anti-muslimischen Behauptungen (wie schon 2009) eine stürmische Diskussion in den Medien. Alle politischen Parteien, Journalisten und Tausende von Bürgern, die sich im Internet zu Wort melden, sind sich einig, dass nun die Debatte über das „Mega-Thema“ Integration beginnen müsse.

Ende September berichtet die Financial Times Deutschland, dass 55 Prozent der Deutschen muslimische Einwanderer überwiegend als Belastung empfinden.

Am 3. Oktober erklärt Bundespräsident Christian Wulff (CDU) in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Führende CDU-Politiker kritisieren Wulffs Rede als zu islamfreundlich. Die Diskussion wird verschärft durch Befürchtungen, dass deutschstämmige Schüler in Berlin Anfeindungen von Seiten ihrer muslimischen Mitschüler ausgesetzt seien („Deutschfeindlichkeitsdebatte“). Horst Seehofer (CSU) fordert in einem Interview mit Focus striktere Sanktionen für „Integrationsverweigerer“ und eine Begrenzung von Einwanderung aus türkischen und arabischen Ländern. Am 16. Oktober, nur einige Tage bevor der 4. Integrationsgipfel in Berlin stattfindet, erklärt Kanzlerin Angela Merkel beim Deutschlandtag der Jungen Union: „Und wir sind ein Land, das im Übrigen Anfang der 60er Jahre die Gastarbeiter nach Deutschland geholt hat. Und jetzt leben sie bei uns, wir haben uns eine Weile lang in die Tasche gelogen, wir haben gesagt, die werden schon nicht bleiben, irgendwann werden sie weg sein. Das ist nicht die Realität. Und natürlich war der Ansatz zu sagen, jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander, dieser Ansatz ist gescheitert. Absolut gescheitert.“ Merkel spricht sich dafür aus, Migranten stärker zu fordern, und ruft Muslime dazu auf, die deutsche Verfassung zu achten. Gleichzeitig stellt sie sich auch hinter Christian Wulffs Aussage, dass der Islam ein Teil Deutschlands sei. Merkels Aussage über das Versagen multikultureller Ansätze wird im Februar 2011 bei der Münchener Sicherheitskonferenz vom britischen Premierminister David Cameron aufgenommen. Auch er erklärt die „Doktrin des staatlichen Multikulturalismus“ („doctrine of state multiculturalism“) für gescheitert. Nur wenige Tage später schließt sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy den Aussagen von Merkel und Cameron an.

Der Regisseur Fatih Akın wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Im November warnt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) die Öffentlichkeit vor einem möglichen, islamistisch motivierten Terrorangriff.

Die Mehrheit der Schweizer Wähler (53 Prozent) stimmt für eine Volksinitiative der SVP (Schweizer Volkspartei) kriminelle Ausländer, die sich rechtmäßig in der Schweiz aufhalten, automatisch auszuweisen („Ausschaffungsinitiative“).

In seinem Buch „Grüß Gott, Herr Imam!“ schildert Imam Benjamin Idriz seine alltäglichen Erlebnisse als muslimischer Geistlicher in Bayern.

Im Dezember kündigt Ursula von der Leyen (CDU) an, dass sie im nächsten Jahr mehr hochqualifizierte Einwanderer anwerben will.