2011
Mit seinen kontroversen Behauptungen über muslimische Zuwanderer beherrscht Thilo Sarrazin Anfang des Jahres die Schlagzeilen. Sarrazin hält an seinen im letzten Jahr gemachten Aussagen fest, dass Muslime für Deutschlands schleichenden Niedergang verantwortlich seien. Die Kritik an Sarrazin nimmt zu. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, betont, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, und gesteht ein, dass Deutschland in der Vergangenheit viele Fehler im Umgang mit Zuwanderern gemacht habe. Die Sarrazin-Debatte sieht sie als eine weitere Verfehlung an. Die Studie „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand“ von der Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan widerlegt systematisch Sarrazins Aussagen. Autoren wie Hilal Sezgin und Feridun Zaimoğlu und Künstler wie DJ Imran Ayata beziehen mit Humor Stellung gegen Sarrazin und seine Anhänger: Im Maxim-Gorki-Theater in Berlin wird die Veröffentlichung ihrer humorvollen Entgegnungen, gesammelt im Buch Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, gefeiert. Weitere Buchveröffentlichungen zum Thema beeinflussen die Debatte (beispielsweise Klaus Wowereits Mut zur Integration. Für ein neues Miteinander, Patrick Banners‘ Die Panikmacher). Eine Studie des Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration kommt wenige Monate später zu dem Schluss, dass die Sarrazin-Debatte das Vertrauen von Zuwanderern in die deutsche Gesellschaft geschwächt und das Deutschlandbild im Ausland geschädigt hat. Im April übersteht Sarrazin ein Ausschlussverfahren der SPD.
In Berlin wird eine Moschee angegriffen. Dies ist bereits der siebte Angriff auf eine islamische Institution in den letzten sechs Monaten. Es bleibt unklar, wer hinter den Übergriffen steckt, und ob die Angriffe in Verbindung miteinander stehen. Befürchtungen über das Ausbreiten von Islamophobie mehren sich, und Islamophobie wird mit Anti-Semitismus verglichen.
Im Februar erklärt der bayrische Brauerbund den Rückgang des Bierkonsums in Bayern mit dem Zuwachs von Menschen mit „Migrationshintergrund“ im Bundesland. Zuwanderer würden weniger Bier trinken als Einheimische. Der Vorfall veranschaulicht die Unsinnigkeit des Begriffs „Migrationshintergrund“, denn der Brauerbund meint damit alle Menschen, die nicht in Bayern geboren sind.
Im Februar und März halten die andauernden Proteste in Tunesien, Ägypten und Libyen die Welt in Atem. In diesem Zusammenhang werden in der EU europäische Grenzkontrollen und illegale Immigration heftig diskutiert. Deutschland stellt finanzielle Hilfe für Flüchtlinge zur Verfügung und entsendet drei Frigatten ins Mittelmeer. Im April sinkt ein Flüchtlingsboot mit 300 Flüchtlingen vor Lampedusa. Diese Tragödie macht erneut auf die steigende Anzahl von Flüchtlingen, die versuchen, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen, aufmerksam und entlarvt Deutschlands und Europas menschenunwürdige Flüchtlingspolitik.
Anfang März widerspricht Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Bundespräsident Christian Wulffs Aussage aus dem vorherigen Jahr, dass der Islam Teil Deutschlands sei. Friedrich betont, dass es keine historische Grundlage für Wulffs Behauptung gebe. Dieser Kommentar, den Friedrich kurz vor einem Treffen der Deutschen Islam Konferenz abgegeben hat, und die kurz darauffolgende Warnung vor einer Radikalisierung von Muslimen rufen Kritik hervor: dem Innenminister wird vorgeworfen, Islam und Extremismus gleichzusetzen sowie Muslime unter Generalverdacht zu stellen.
Eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) kommt zu dem Schluss, dass fremdenfeindliche Einstellungen gegenüber Zuwanderern, vor allem Muslime, Europäer vereint. Über die Hälfte der Befragten, die aus acht europäischen Ländern kamen, waren der Auffassung, dass es zu viele Migranten in ihren Ländern gäbe. Einwanderer würden zudem eine Bedrohung für die Sozialsystem darstellen. Je höher der Bildungsgrad und finanzielle Status, desto geringer ist die Tendenz, intolerante Einstellungen zu entwickeln.
Um den Fachkräftemangel effektiver zu bekämpfen, verabschiedet das Bundeskabinett ein Gesetz, das die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen erleichtern und Bewerbern mehr Klarheit geben soll. Beispielsweise müssen eingereichte Unterlagen innerhalb von drei Monaten bearbeitet werden.
Im April bricht eine leidenschaftlich geführte Debatte über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU aus. Aufgrund der Sorge über die steigende Anzahl von Flüchtlingen aus Afrika und Dänemarks Ankündigung Grenzkontrollen wieder einzuführen, wird das Schengener Abkommen angepasst.
Ende April fordert der SPD-Politiker Axel Schäfer ein Burkaverbot in Deutschland. Schäfer nennt als Vorbild für ein derartiges Gesetz Frankreich und Belgien, die vor kurzem Richtlinien zum Tragen der Burka erließen.
Am 2. Mai töten amerikanische Soldaten Osama bin Laden. Der salafistische Prediger Pierre Vogel plant in Frankfurt eine Gedenkveranstaltung für den verstorbenen al-Qaida-Führer zu halten. Muslimische Organisationen kritisieren Vogels Vorhaben und die Stadt Frankfurt versucht, die Veranstaltung zu verbieten. Schlussendlich darf die Gedenkfeier stattfinden, allerdings wird Vogel untersagt, ein Totengebet für bin Laden zu sprechen.
Im Mai beschließt die SPD die Einführung einer Migrantenquote für Führungsgremien, und Bilkay Öney (SPD) wird zur Integrationsministerin Baden-Württembergs ernannt.
Der Zuzug von tausenden von Bulgaren und Rumänen in deutsche Städte zieht vermehrt die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Die Diskussion dreht sich vor allem um die Entstehung von Parallelgesellschaften und die Frage, wie die Migration und die Armut der Zuwanderer bekämpft werden kann.
Ende Mai tritt der Beirat für Integration zum ersten Mal zusammen. Der Beirat soll, wie auch der Integrationsgipfel und die Deutsche Islam Konferenz, die Bundesregierung in Sachen Integration und Migration beraten.
Im Juni geraten die deutschen Burschenschaften ins Kreuzfeuer der Kritik. Auf dem Jahrestreffen wird beraten, die Mannheimer Burschenschaft aus dem Verbund auszuschließen, weil sie einen Deutschchinesen als Mitglied aufgenommen hat.
Ein Bericht der Vereinten Nationen zeigt, dass die meisten Flüchtlinge in Entwicklungsländern leben. Die Studie widerlegt somit die Behauptung von Industrieländern, dass sie die Mehrheit der Flüchtlinge aufnehmen würden. Die Anzahl von Flüchtlingen steigt weltweit, auch wenn die Anzahl von Klimaflüchtlingen niedriger ist als erwartet. Auch in Deutschland werden mehr Asylanträge gestellt als in den Jahren zuvor.
Die Vereinten Nationen kritisieren die deutsche Sozialpolitik: der Bericht wirft Deutschland unter anderem vor, Migranten zu benachteiligen.
Im Juli flammt die Debatte über den befürchtetenden Zustrom von Arbeitnehmern aus Polen wieder auf, als deutlich wird, dass dieser Zulauf trotz des Zutritts Polens zum Schengen-Raum ausbleibt. Studien weisen außerdem nach, dass Menschen ihr Heimatland verlassen, weil sie arbeiten, und nicht die Sozialsysteme anderer Länder missbrauchen, wollen – was allerdings für viele Deutsche die Hauptmotivation für Migration zu sein scheint. Dabei fällt es Deutschland eher schwer, Fachkräfte anzuwerben und längerfristig zu halten. So zieht es auch Deutschtürken vermehrt in die Türkei. Diese Probleme fallen zunehmend ins Augenmerk der Öffentlichkeit und werden unter dem Stichwort „Willkommenskultur“ diskutiert. Die Schwierigkeit für Zuwanderer Arbeit zu finden, ist wohl auch einer der Hauptgründe, warum sich Migranten häufiger selbstständig machen. OECD-Studien kommen auch zu dem Ergebnis, dass die Finanzkrise Migranten mehr zugesetzt hat als anderen Bevölkerungsgruppen: allerdings ist die Situation für Einwanderer in Deutschland besser als in anderen Ländern.
Im August stellt eine Langzeitstudie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fest, dass sich die Einstellungen der Deutschen gegenüber Zuwanderern langsam ändert: so sind Deutsche mittlerweile eher geneigt, Migranten nach ihrem Verhalten und Vorstellungen zu beurteilen, und nicht einfach nur nach ihrer Herkunft. Diese Veränderung zeigt sich auch im Wunsch deutscher Fernsehzuschauer, dass Verantwortliche für mehr Ausgeglichenheit bei der Berichterstattung über Integration und Migration sorgen, beispielsweise auch durch die Einstellung von Moderatoren mit Migrationshintergrund.
Während seines Deutschlandbesuches im September spricht Papst Benedict XVI. mehrmals über Muslime in Deutschland. Der Papst betont, dass muslimische Familien seit den 1970er Jahren ein „Merkmal dieses Landes“ sind. Bei einem Treffen mit muslimischen Vertretern unterstreicht der Papst die Gemeinsamkeiten zwischen der katholischen Kirche und Muslimen, beide Gruppen hätten ein ähnliches Verständnis von der Bedeutung von Religion im Alltag. Die zunehmende Gleichgültigkeit in der deutschen Gesellschaft gegenüber der Religion kritisiert der Papst dann auch beim Empfang des Bundespräsidenten.
Das Statistische Bundesamt erklärt, dass jeder fünfte Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund (20 Prozent) hat. Die Mehrheit von ihnen besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Etwa einen Monat später berichtet das Statistische Bundesamt, dass Zuwanderer armutsgefährdeter sind als der Rest der Bevölkerung.
Am 30. Oktober feiert Deutschland den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Vor allem Museen befassen sich in diesem Jahr mit der deutschen Migrationsgeschichte. Das Deutsche Historische Museum veranstaltet ein Filmfestival und organisiert zusammen mit dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD) die Ausstellung „Geteilte Heimat- 50 Jahre Migration aus der Türkei“. Ein Nostalgiezug fährt von der Türkei nach Deutschland, um an die lange Reise der Gastarbeiter zu erinnern. Der Anlass wird aber auch genutzt, um Kritik an der Erinnerungskultur zu üben. Auch Premierminister Recep Tayyip Erdoğan nutzt die Gelegenheit, um den Prozess der Integration von Türken in die deutsche Gesellschaft zu kritisieren und Deutschlands Widerwille gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU anzuprangern.
Im November wird der Bambi für Integration an den deutschtunesischen Rapper Bushido verliehen. Die Ehrung sorgt für Kontroverse: Bushidos Lieder enthalten häufig homophobe und frauenfeindliche Aussagen.
Im November erschüttert einer der größten Nachkriegsskandale Deutschland: eine einzelne Gruppe von Neo-Nazis mörderte Ausländer zwischen 2000 und 2007. Jahrelang hatten die deutschen Behörden, die ihre Ermittlungen häufig schlampig und voreingenommen durchführten, keinen Bezug zwischen den sogenannten „Döner-Morden“ und der rechtsradikalen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), auch Zwickauer Terrorgruppe genannt, hergestellt. Das Wort „Döner-Morde” wird zum Unwort des Jahres 2011 gewählt: „Der Ausdruck steht prototypisch dafür, dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde: Die Unterstellung, die Motive der Morde seien im kriminellen Milieu von Schutzgeld- und/ oder Drogengeschäft zu suchen, wurde mit dieser Bezeichnung gestützt. Damit hat Döner-Mord(e) über Jahre hinweg die Wahrnehmung vieler Menschen und gesellschaftlicher Institutionen in verhängnisvoller Weise beeinflusst. Im Jahre 2011 ist der rassistische Tenor des Ausdrucks in vollem Umfang deutlich geworden: Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechts-terroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden.“ Um Rechtsradikalismus in Zukunft besser bekämpfen zu können, wird eine zentrale Datei für Ermittlungen gegen rechtsradikale Straftäter eingerichtet.
Im Dezember schaut die Öffentlichkeit zurück auf die erste PISA-Studie, deren Ergebnisse vor zehn Jahren Deutschland schockiert und für einen radikalen Umbau des Schulsystems gesorgt hatten. Die PISA-Studie bewirkte auch ein Umdenken hinsichtlich Deutschlands Identität: das Thema Migration rückte in den Vordergrund, Deutschland wurde offiziell ein Einwanderungsland. Trotz vieler Fortschritte existieren viele Probleme noch heute: eine kürzlich erfolgte Umfrage zeigt, dass türkische Eltern glauben, dass ihre Kinder weniger Chancen haben als andere Kinder.